Einmal pro Monat findet in Halle eine Vorstellung statt, die immer vor ausverkauftem Hause gespielt wird. Und dabei weiß keiner, was passiert. Das ist ein Improvisationstheater: hinter den Kulissen ist dasselbe reale Leben.
Obwohl manche solch eine Aufführung für eine Art des Psycholabors halten, wo eine bestimmte Lebenssituation modelliert wird, ist das keine vorgeübte Vorstellung, keine bis in die Einzelheiten durchgedachten Rollen, keine Regiesituation, sondern, ja, manchmal eine übertriebene, aber doch eine Realität. Das Leben im Konjunktiv. Was es wäre, wenn…
In solch einem Theater sind alle Schauspieler Autoren. Hier gibt es keine Pause und das Bühnenbild ist eigentlich nicht so wichtig. Das Thema ist undeutlich, was ein Genre betrifft, ob es eine Komödie, Tragödie oder Farce wird, kann man nur feststellen, nachdem der Vorhang schon gefallen ist. An dieser lebensvollen Handlung konnte potentiell jeder teilnehmen und der Schauspieler kann plötzlich in den Zuschauerraum gehen…und nie zurückkehren…
Als wir eingeladen waren, an dem Improvisationsstück „240 warm“ im Circus Varieté teilzunehmen, erschrak ich. Wie kann man so was einem Menschen vorschlagen, der kaum Deutsch spricht und nie im Scheinwerferlicht stehen wollte? Und dann verstand ich, dass es ein „In-diesem-Leben-soll-man-alles-probieren“-Vorschlag ist und stimmte zu. Man verlangte von uns als einziges: wir selbst zu sein.
Lebenslustige Russen stürmten plötzlich in die Reservation von fünf Deutschen herein, wie eine frische Luft ins Fenster. Bis dahin mummten sich Luisa Regensburg (Nadja Hagen), Beate Storch (Andrea Habier), Lars Thümmler (Martin Kreusch), Kai Krammer (Alexander Terhorst), Frank Lange (Jan Felix Frenkel) 24 Tage lang in elf Kleidungsschichten ein, teilten ordentlich Speisereste und wurden allmählich verrückt. Die Ursache war eine Umweltkatastrophe: Schnee und Frost in den Gebieten, wo Regen im Winter üblich ist, überraschten die ganze Stadt. Die Behörden waren zu, Verkehrsmittel waren außer Betrieb, keine Lebensmittel blieben in den Geschäften. Und um sich zu retten, verbargen sich die Haupthelden in ihrer WG. Merkwürdigerweise hatte man keinen Strom in der Wohnung, deshalb blieben Fernseher, Radio und Telefone ganz nutzlos, die Türklingel selbst gab drei Wochen lang keinen Laut von sich. Die Post häufte sich hinter der Tür auf. Der Ausgang war zugemauert. Wenn der Schnee sogar zu Hause nicht schmilzt, was für Schreckliches passiert dann draußen?!
Am Tag als alles zu Ende ging – so kann man die Handlung auf der Bühne beschreiben -, teilten die Helden die Überbleibsel; ganz hoffnungslos und resigniert machten sie einen Korb auf, den die vorsorglichen Mieter für einen Katastrophenfall vorbereitet hatten. Drin war ein ägyptischer Gott mit einem großen sechsten Glied, ein Buch über den Lebenssinn(!) und weitere Kleinigkeiten. Sie entschieden sich, den potentiellen letzten Tag ausgiebig zu verbringen. Dank des Heimtrainers, den man in einen Stromgenerator umgebaut hatte, erwärmten sie das Zimmer. Viel Spaß machte die letzte Flasche Bier, die unter dem Sofa fast verloren ging. Fünf erfrorene Leute waren fast bereit in den ewigen Frieden einzugehen…als es plötzlich an die Tür klopfte. Freche Gäste – eine für Deutschland – scheinbar – beispiellose Geschichte – trommelten mit den Füßen an die Tür und forderte laut: „Machen Sie auf!“
Das waren wir. Wir trugen Sommerkleider, Schuhe mit Absätzen und erzählten emotional vom Leben „hinter der Mauer“, ja, bestimmt, die Deutschen waren dadurch überrascht. Sie wussten nicht Bescheid, dass Flugzeuge immer noch fliegen, Menschen zur Arbeit gehen und das Geldsystem Europas durch den Warenaustausch nicht verändert wurde (und die Währung Europas blieb unverändert.) Mit der Welt hatten sie sich selbst begraben. Zum Glück in einem kalten Winter kamen zwei Mädchen aus der Partnerstadt Ufa nach Halle und gingen aus Langweile zu Besuch. Das Mitbringsel („Kuschtenesch“ auf baschkirisch) – Wodka und Einlegegurken – weckten die Lebensgeister von unseren Helden. Sie begannen in der Wohnung zu rennen, sich auszuziehen, einander zu umarmen und zu küssen. Und irgendwann wurde der russische Trinkspruch „Auf Ihr Wohl!“ zu „Auf´s Leben!“, den alle Mitbewohner der WG mit jedem Zuschauer ausbrachten.
Dank den Witzen und beliebten Wortspielen ging im Zuschauersaal jede Minute lautes Gelächter los. Und sogar als wir auf die Bühne traten, änderte sich nichts. Die Zuschauer lachten über unsere Aussprache, die Erinnerungen der Deutschen an den Russischunterricht in der Schule und die Gewohnheit Wodka „zu essen“.
Die Gefahr schachmatt zu sein wurde zum Happy End! Der Beifall wollte sich sieben Minuten lang nicht legen, fünfmal kehrten die Schauspieler auf die Bühne zurück. Das war ein wunderbares Gefühl, 250 zufriedene Gesichter zu sehen und zu verstehen, dass ihre gute Laune teilweise dein Verdienst ist.
Als wir nach Hause gingen, begegneten wir einem älteren Ehepaar an der Haltestelle. Sie bedankten sich bei uns für einen schönen Abend und fragten pfiffig: „Sie sind aber keine echten Russinnen, nicht wahr?“
Das scheint mir eine richtige Anerkennung zu sein!
Julia Baydzhanova, Februar 2010