„Nach Sibirien? Jetzt im Sommer?“ – mein alter Schulfreund Steffen und seine Freundin sahen mich verständnislos an als ich ihnen von meinen Reiseplänen zum Baikalsee erzählte. Sie würden so eine abenteuerliche Tour durch Russland lieber nicht antreten. Für mich gab es aber kein Zurück mehr, ich wollte unbedingt den Baikal mit eigenen Augen sehen.
Und so traf ich mich sehr zeitig am nächsten Morgen wie geplant mit meinem Reisegenossen Tilo, um zunächst per Zug nach Berlin zum Flughafen Schönefeld zu fahren. Die Aeroflot beförderte uns von dort aus via Moskau bis nach Irkutsk, wo wir 17 Stunden nach unserem Ablegen vom heimischen Hauptbahnhof eintrafen. Durch die Zeitverschiebung von 7 Stunden zu Deutschland war es 5 Uhr morgens als wir uns mit unseren Mitreisenden um das Gepäck drängelten. Dann nahmen wir ein Linientaxi zum Bahnhof, wo wir den russischen Teil der Baikalreisegesellschaft, nämlich Yulya und Vova trafen. Wir beschlossen, den Tag für einen Stadtbummel durch Irkutsk zu nutzen. Die „Hauptstadt Ostsibiriens“ ist eine typische russische Großstadt mit 600 000 Einwohnern. Im Stadtzentrum kann man noch einige alte Holzhäuschen mit aufwendigen Schnitzereien entdecken, sich über die Geschichte der Stadt im Heimatmuseum informieren, am Ufer der Angara entlang schlendern und natürlich gibt es auch das übliche Lenindenkmal zu sehen.
Am nächsten Morgen startete der Bus, der uns zur Baikalinsel Ol’khon bringen sollte. Nach 450 km über Asphalt- und dann Sandpisten war es endlich soweit: Der Baikal war zu sehen! Wobei es eigentlich erst der Ausläufer des „Sibirischen Meeres“ war, das so genannte Kleine Meer, das die Insel vom Festland trennte. Nach dem Übersetzen mit der Fähre begrüßte uns Ol’khon mit einer wunderbaren Steppenlandschaft, durch die wir bis in das Dorf Khuzhir fuhren, wo unsere Busfahrt endete. Khuzhir ist mit 1400 Einwohnern der Hauptort der Insel, direkt am Schamanenfelsen gelegen. Dieser weiße, in der Bucht des Kleinen Meeres gelegene Felsen wird häufig als das Symbol des Baikals bezeichnet. Nicht weit von Khuzhir entfernt schlugen wir unsere Zelte auf, direkt am feinen Sandstrand des Kleinen Meeres. Das Plantschen im glasklaren Wasser ist sehr erfrischend und recht kurz, weil die Wassertemperatur bei schätzungsweise 14°C lag. Allerdings hatte unser Standort den Vorteil, dass hier die Steppenzone in ein typisch sibirisches Wäldchen mit Kiefern und Lärchen überging, was für die Rohstoffbeschaffung für ein Lagerfeuer von Vorteil ist.
Am nächsten Tag unternahmen wir eine Wanderung bei strahlendem Sonnenschein entlang der Küstenlinie des Kleinen Meeres bis zum nächsten Dorf, Kharanzy. In der Nähe konnte man in einer Bucht einen Löwen und ein Krokodil schwimmen sehen – allerdings handelt es sich hierbei um zwei kleine Steininseln, die in dieser Form zu sehen sind. Am Abend haben wir uns in eine typisch russische Banya in Khuzhir eingemietet, natürlich inklusive Birkenzweigen zur Massage und dem üblichen Bier.
Am nächsten Morgen tauchte plötzlich ein Kleinbus mit Anatolii vor unseren Zelten auf. Hektisch und ohne Frühstück brachen wir sofort zu einer Tour in den Inselnorden zum Kap Khoboi auf, die Vova für uns organisiert hatte. Der Norden der sich 70 km von Nord nach Süd erstreckenden Insel ist so gut wie unbewohnt, aber von unglaublicher landschaftlicher Schönheit. Besonders hat mich die Natur am Kap beeindruckt, zumal man von hier einen wunderbaren Blick sowohl auf das Kleine Meer, als auch auf den Baikal genießen kann. Hier gehen die schroffen Felsen der Insel in das unendliche Blau des Baikalsees über, der 20% der Süßwasservorräte der Erde beinhaltet. Ich hätte dort noch sehr viel länger verweilen können, aber Anatolii wartete schon mit dem Mittagessen. Er hatte während unserer Kapexpedition eine leckere Fischsuppe zubereitet, natürlich mit Omul, dem berühmtesten der Speisefische des Baikals. Auf dem Rückweg kamen wir an der Wetterstation von Uzury vorbei und konnten das zweite Heiligtum der auf der Insel ansässigen Buryaten, den Berg Zhima sehen.
Da uns Anatoliis Fahrservice gefallen hat, buchte Vova bei ihm gleich noch eine Tagestour in den Süden unserer Insel, an der auch Agniya, die inzwischen eingetroffen war, mit teilhaben konnte. Und so konnten wir noch ein paar wunderschöne Ecken Ol’khons entdecken und auch viel über die Lebensweise der Einheimischen erfahren. Natürlich muss man auf Ol’khon keinen Bildungsurlaub machen, man kann auch einfach einen Tag am Strand verbringen, etwas wandern gehen oder eine Mountainbiketour unternehmen.
Nach einer Woche auf der Insel hieß es, die nicht gekennzeichnete Bushaltestelle zu finden und zurück nach Irkutsk zu reisen. Dort haben wir am Busbahnhof den nächsten Bus nach Listvyanka, dem Ausflugsziel Nummer 1 der Irkutsker, genommen. Das Dorf, das direkt am einzigen Abfluss des Baikal, der Angara, gelegen ist, hat uns weniger interessiert, denn wir nahmen die Fähre über die Angara nach Port Baikal. Hier mieteten wir uns in eine Wohnung in einem Holzhaus ein, wie sie dort typisch ist. In Port Baikal endet die alte Baikalbahn, da die restliche Strecke nach Irkutsk durch den Aufstau der Angara unter Wasser gefallen ist. Die Zeit in Port Baikal nutzten wir, um auf die Felsen am Ufer zu klettern, von denen man eine schöne Aussicht auf den Baikal hat und um entlang der Trasse der Baikalbahn, die direkt am Ufer verläuft, zu wandern.
Am nächsten Tag wollten wir dann den Zug nach Slyudyanka am Südufer des Baikals nehmen, doch vorher konnten wir noch die Einweihung des neuen Bahnhofgebäudes von Port Baikal erleben. Aus diesem Anlass gab es sogar eine Dampflokomotive zu bewundern, außerdem wurden ein paar Reden von den Leitern der Ostsibirischen Eisenbahn gehalten und einige Schauspieler stellten die Ersteinweihung des Bahnhofs vor über hundert Jahren nach. Nach diesem recht amüsanten Ereignis startete unser Touristenzug, der für die 70 km reichlich 7 Stunden brauchen sollte. Dies lag zum einen an dem gemütlichen Reisetempo, aber auch an den drei großen einstündigen Pausen, die man gut zum Picknicken, Wandern oder Baden nutzen konnte. Für mich ist diese Strecke eine der schönsten Eisenbahnrouten der Welt: Stets am Ufer der Baikal entlang führend, wechseln sich kleine und größere Tunnel- und Brückenbauwerke ab. Außerdem hat man die ganze Zeit einen wunderschönen Blick auf den See.
Der Ort Slyudyanka, der sich am südlichsten Punkt des Baikalsees befindet, liegt exakt auf demselben Breitengrad wie Halle. Der Baikal erstreckt sich von hier aus 636 km in den Norden und enthält 23 000 km3 reinstes Süßwasser. Zum Baden laden Wassertemperaturen von etwa 10 °C im Sommer aber nicht unbedingt ein. Wir entschieden uns auch aus diesem Grund eine Bergtour zum Pik Cherskovo (2090m) zu unternehmen und bezogen zunächst unser etwas ungewöhnliches Quartier im Geologischen Museum.
Am nächsten Morgen brachen wir in der Morgendämmerung auf, um die Tour an einem sonnigen Tag zu bewältigen und um das angekündigte schlechte Wetter des nächsten Tages und zusätzliches Gepäck zu vermeiden. Wir folgten dem Fluss Slyudyanka auf dem im Tal verlaufenden Wanderpfad, der sich durch den Wald schlängelte. Nach 6 Stunden erreichten wir die Wetterstation und uns wurde klar, dass ein Aufstieg bis auf den Gipfel wohl zeitlich nicht zu bewältigen ist, der von hier aus noch weitere 3 Stunden dauern würde. Wir stiegen aber noch bis zur Baumgrenze auf und konnten dank des klaren Wetters die Aussicht über das Khamar-Daban-Gebirge mit seiner Bergtaiga, das sich entlang des Südufers des Baikalsees erstreckt, bewundern. Der Abstieg verlief etwas zügiger, aber trotzdem waren wir erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder in Slyudyanka. Meine Füße waren wie Blei nach den 50 km, auch Yulya und Tilo hatten vom Wandern genug, so dass das Ausschlafen am nächsten Tag erste Bürgerpflicht war.
Slyudyanka ist nicht nur der südlichste Ort am Ufer des Baikalsees, sondern auch ein Knotenpunkt der Transsibirischen Eisenbahn. Es ist schon beeindruckend, wenn man auf der Fußgängerbrücke am Bahnhof steht und die riesigen Güterzüge auf den Gleisen sieht, deren Waggonzahl man nur noch erahnen kann. Um noch mehr vom Südufer zu sehen, nahmen wir von Slyudyanka aus die Elektrichka, eine Art elektrifizierte Regionalbahn, Richtung Ulan-Ude, also gen Osten. Außer dem unschönen Anblick des Baikalsker Zellulosekombinates ist das Südufer auch landschaftlich sehr reizvoll, wenngleich die Felsen nicht so schroff in den See übergehen wie entlang des Westufers. Die Bahnstation Vydrino, die erste in der Republik Buryatien, war unser Ziel. Von dort aus brachte uns ein freundlicher Lada-Fahrer bis zu den drei Warmen Seen, da wir nicht schon wieder einen längeren Fußmarsch absolvieren wollten. Diese drei kleinen Seen sind nicht sehr weit vom Baikal entfernt und malerisch in den Ausläufern des Khamar-Daban-Gebirges gelegen. Ein wunderschönes Fleckchen Erde, denn die drei Seen, die nicht weit voneinander getrennt sind, liegen harmonisch eingebettet in die Gebirgslandschaft, und dazu kam noch der strahlend blaue Himmel. Warum die Seen aber warme Seen sind, kann ich mir nicht erklären, da die Wassertemperatur sich nur wenig von der des Baikals unterschied. Nur konnten wir nicht ewig hier verweilen, da wir noch einen Abstecher in das Tunga-Tal, das südwestlich vom Baikal gelegen ist und ebenfalls zur Buryatischen Republik gehört, geplant hatten.
Das Tunga-Tal zieht sich von der Südspitze des Baikalsees bis südwestlich zur mongolischen Grenze hin und wird nördlich durch das Sayan-Gebirge begrenzt. Direkt am Fuße der Gipfel des Sayans befindet sich der Kurort Arshan, der durch die Heilquellen in der Region sehr bekannt ist. Der Kurort hat einen sehr dörflichen Charakter, ist aber inmitten von Kiefernwäldern gelegen und hat außerdem noch einen kleinen Wasserfall an dem Flüsschen Kyngara zu bieten. Dieser Wasserfall war dann auch unser erstes Wanderziel, nachdem wir uns bei einer sehr freundlichen buryatischen Familie einquartiert hatten. Eine etwas längere Wandertour führte uns am nächsten Tag hinauf zum Pik Lyubvi, der oberhalb der Baumgrenze gelegen ist und von dem man nicht nur eine herrliche Aussicht auf das Tunga-Tal hat und den einen oder anderen Vulkankegel entdecken kann, sondern sich auch die schroffen Felsformationen des Sayan-Gebirges erschließen.
Leider war Arshan die letzte Station auf unserer zweiwöchigen Baikal-Reise. Mit dem Linientaxi ging es zurück nach Irkutsk zum Bahnhof, von wo aus ich unbedingt testen wollte, ob man per Zug bis nach Halle zurückfahren kann. Man kann, denn in drei Tagen erreicht man Ufa, wo ich eine wunderbare Woche verbracht habe. Weiter führten mich die Schienestränge via Moskau nach Kiev und weiter nach Warschau, wobei in jeder dieser Hauptstädte die Zeit für einen kleinen Stadtrundgang reichte. Schließlich kam ich nach insgesamt einer Woche auf den Gleisen wieder am halleschen Hauptbahnhof an und kann nun nicht nur Steffen und seiner Freundin sagen, dass Sibirien im Sommer ein ganz besonderes Erlebnis und auf jeden Fall eine Reise wert ist!
Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen bedanken, die an der Baikal-Tour ihren Anteil hatten: Yulya für die Hilfe bei der Organisation der Tour, der gesamten Baikal-Reisegesellschaft für die schöne Zeit vor Ort und bei Tilo für stets „gut vorbereitete“ Reisen nach Russland.
Karsten Riedl, 01.11.2005