„Abwarten und Tee trinken“ – lässt sich so die russische Lebensphilosophie beschreiben, und haben wir diesen Spruch vielleicht von den Russen übernommen!? Mir scheint es oft so. Denn bestimmt nirgendwo, zumindest an den Plätzen, wo ich bis jetzt war, trinkt man so viel Tee wie hier. Wenn ich in Deutschland bei Freunden nach einem Tee fragen würde, dann bekomme ich genau diesen, und sicherlich nicht mehr und nicht weniger. Aber hier war ich überrumpelt, als mir das erste mal ein Tee angeboten wurde. Es wurde so ziemlich alles, was sich an essbarem im Haus befand aufgetischt, der Kühlschrank war während des Teetrinkens sicherlich ratzeputz leergeputzt. Von Obst und Gemüse, über Brot mit Käse und Wurst, Marmelade, Honig, Salate bis hin zu Keksen und gefüllten Teigtaschen war alles zu finden.
Im Prinzip ist das „Teetrinken“ in Russland vergleichbar mit unserem „Kaffeetrinken“ in Deutschland, wo es ja auch immer Kuchen und Gebäck gibt. Nur dass das Teetrinken nicht nur eine Mahlzeit am Nachmittag ist, sondern bis zu 4 oder 5 mal am Tag durchgeführt wird und um einiges umfangreicher ist. So viel erst einmal zum Teetrinken an sich.
Aber was hat dieser Spruch nun mit dem Lebensstil und der bei uns bekannten Bedeutung zu tun!?? In meinen nun schon neun Monaten hier im Land der Gemütlichkeit konnte ich so einige Parallelen feststellen und habe den Spruch schon mehrmals in die Tat umsetzen können, denn dass die Russen nicht die pünktlichsten sind, ist wohl allen bekannt. Es kommt schon nicht selten vor, dass man eine…zwei…oder vier Stunden auf jemanden wartet, um dann zu erfahren, dass das Treffen heute leider ausfallen muss.
Ich habe übrigens auch schon den Grund für diesen Umstand erfahren können. Das von uns als „Unpünktlichkeit“ bezeichnete Phänomen läge an der Grösse des Landes und sei noch ein Überbleibsel aus der Zeit, als man nur mit Pferdewagen reiste, denn da wurden Zeitangaben in Tagen oder Wochen angegeben. Bei solchen Zeitangaben, das stimmt natürlich, sind fünf Stunden lächerlich. Aber nicht nur, wenn man auf jemanden wartet, lässt sich dieser Spruch gut anwenden, sondern in fast allen Lebenslagen.
Man stelle sich zum Beispiel vor, man wird gefragt einen Vortrag zu halten, sagt natürlich zu und möchte nun ein paar Einzelheiten erfahren, da man sich ja als korrekter Deutscher gut vorbereiten will und meint, dass ja sicherlich Dinge wie Thema, Ort und Datum schon fest stehen. Tja, so wäre es sicherlich in Deutschland gewesen. Aber hier heisst es erst einmal: Abwarten und Tee trinken. 😉 Wenn man Glück hat, bekommt man dann zwei Tage vorher Bescheid gesagt. In Deutschland wäre das wahrscheinlich ein Problem, da der Terminkalender sicherlich bis auf die letzte Minute ausgefüllt wäre und man natürlich niemandem so kurzfristig absagen möchte. Aber hier, wo die Menschen auf solch eine Art und Weise leben und auf solche Situationen eingestellt sind, ist das kein Problem. Man kann seine schon Wochen im Voraus geplanten Verabredungen ohne Probleme immer wieder umlegen, muss aber genauso damit rechnen, dass einem eine Stunde vor dem geplanten Treffen dieses abgesagt wird. Nach einem Vierteljahr habe ich es letztendlich aber aufgegeben, wie in Deutschland, meine Zeit auf Stunden genau einzuteilen, denn das macht hier einfach keinen Sinn.
Auch in Geschäfte muss man sehr viel Geduld mitbringen, denn oft finden aufgrund abgesplitterter Nagellackfarbe oder, durch Schwitzen verursachtem, nicht perfekt sitzendem Make-Up notwendige „technische Pausen“ statt. Diese sind durch ein Schild an der Tür zu erkennen auf dem oft steht, wie lange die Pause dauert, aber natürlich nicht, wann diese angefangen hat geschweige denn wann sie aufhört. Wenn man es aber erst einmal in ein Geschäft geschafft, hat wird man dann natürlich von überwältigenden Schönheiten empfangen, die vor Elan gar nicht wissen, wen sie zuerst bedienen sollen, sodass man sie häufig erst darauf hinweisen muss, damit sie sich aus ihren Zeitschriften lösen, um ihrer Arbeit nachzugehen.
Ob sich das alles noch einmal ändern wird, ob die passiven Russen sich jemals für Politik interessieren werden und etwas verändern wollen, Bauarbeiter nicht mehr einen ganzen Tag für 1000 Meter Geländerbemalung benötigen und kaputte Toilletten in Zukunft schneller als in einem Monat repariert werden, bleibt abzuwarten. Da lässt sich nur noch sagen – „Abwarten und Tee trinken“. ;-D
Katrin Hennig, 02. Juli 2006