Manche Eindrücke sind einfach nur irgendwie surreal. Das ist wohl auch immer dann der Fall, wenn man auf zwei Realitäten stößt, die zwar wie ganz selbstverständlich miteinander existieren, aber subjektiv gerade nicht so recht zusammenpassen wollen. In diesem Fall dann auch noch die richtigen Worte dafür finden zu wollen ist mitunter nicht ganz einfach. Hier ein Versuch: die kurze Geschichte von einem Ausflug aufs Land.
Starobabitschevo, ein kleines Dorf knapp zwei Autostunden von Ufa entfernt. Die letzten Straßen dorthin unter Schnee begraben. Die ersten Ausläufer des Ural zum Greifen nahe. Die Landschaft herum faszinierend und weitläufig. Alles wirkt sehr ruhig, teilweise entrückt. Holzhäuschen mit bunten Fassaden säumen den Straßenrand. Ein Junge reitet langsam auf einem Pferd durch das Dorf. Ein bisschen wie in einer anderen Welt, denke ich mir, zumal ich kaum etwas verstehe. In Starobabitschevo wird fast ausschließlich Baschkirisch gesprochen.
Ich bin auf dem Weg in die Schule des Dorfes, wohin ich eingeladen wurde, um einer Veranstaltung beizuwohnen. Es ist der 14. Februar, der 25.jährige-Gedächtnistag an den Rückzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan. Die Veteranen der Gegend sollen Ehrenurkunden überreicht bekommen. Danach gebe es noch einen Schülerwettbewerb, heißt es. Der Bekannte, mit dem ich dorthin fahre, erklärt mir seine Sicht auf die historischen Ereignisse von damals. Man hätte selbstverständlich alles richtig gemacht, die Afghanen hätten „uns“ mit offenen Armen empfangen. So und so weiter. Man kennt das mittlerweile und ich höre auch nur mit halbem Ohr hin, irgendwie passt mir das gerade nicht so recht zu dieser still-entrückten, baschkirisch-dörflichen Welt, die da am Fenster vorbeigleitet.
Auch in der Schule reden fast alle Baschkirisch miteinander. Die Unterrichtssprache ist natürlich Russisch, wie mir eine Lehrerin erklärt. Außerhalb davon aber benutze man eben seine Muttersprache. Von verschiedenen Dörfern aus der ganzen Gegend werden Kinder mit dem Schulbus jeden Tag hierher gebracht. Doch es droht die Schließung, bemerkt die Lehrerin. „Es ist traurig“, ergänzt eine andere, „aber unsere Dörfer sterben langsam.“ Die Schließung der Schulen sei ein dafür nur allzu deutliches Symptom. 2012 wurden in Baschkortostan ca. 150 Schulen auf dem Land geschlossen. 2013 noch einmal 95. Eine verschwindende Welt? Plötzlich wieder so ein Moment. Beim Blick durch das Zimmerfenster sehe ich zufällig ein altes Pferdegespann vorbeifahren.
Wir begeben uns in die Sporthalle. Hier bricht sich dann schließlich wieder eine andere Realität Bahn. Die Gedenkveranstaltung an den Krieg, die gefallenen Soldaten und die Veteranen, die lebend zurückgekehrt sind. All das ist an sich nachvollziehbar und die Erinnerung daran sicher auch notwendig, mit Ausnahme vielleicht der dicken Schicht Pathos, mit der all das geschieht. Was allerdings danach einsetzt ist schon wieder eher erschreckend und reißt mich vollends aus der Stimmung des still-entrückten baschkirischen Dorfes heraus. Plötzlich sieht man sich wieder mitten in die Realität russländisch-alltäglicher Sonderbarkeiten versetzt. Es beginnt der bereits angekündigte Schülerwettbewerb – er läuft unter dem Titel „Verteidiger des Vaterlandes“.
Seit der späten Sowjetzeit gibt es in Russland eine vormilitärische Grundausbildung unter Schülern und Jugendlichen, die auch noch heute gemeinhin oft als “Sarniza” (зарница) bezeichnet wird. Waren es früher in erster Linie Pioniergruppen, die solche „Spiele mit militärischen Elementen“ zur Vorbereitung auf den eigentlichen Armeedienst organisierten, so sind es heute vor allem sogenannte „militärisch-patriotische Klubs“. Eben ein solcher wurde von den Schülern in Starobabitschevo gegründet. „Möge unsere Jugend“, so heißt es in der Gründungserklärung, „aufwachsen im Geiste des Patriotismus, möge sie stark sein sowohl physisch als auch geistig.“
Die Mitglieder stehen in verschiedenen, den Abteilungen des Militärs nachgebildeten Gruppen entlang der Sporthallenwand aufgereiht. In militärischer Manier melden die einzelnen Gruppenführer dem anwesenden Oberstleutnant die Vollständigkeit ihrer Abteilungen. „Abtreten!“, ruft dieser ihnen daraufhin entgegen. Der Oberstleutnant leitet auch den Wettbewerb. In verschiedenen Stationen haben die Schüler zu zeigen, wer etwa am schnellsten ein Maschinengewehr zusammenbauen, wer am schnellsten seinen Gas-Schutzanzug anziehen oder wer am besten – auf dem Schulflur wurde hierfür extra ein kleiner Schießstand aufgebaut – mit dem Gewehr umgehen kann.
Ich habe nicht die Gelegenheit, dem Treiben allzu lange zuzuschauen. Mein Bekannter möchte nach Beendigung der offiziellen Gedenkveranstaltung wieder zurück in die Stadt. Auf der Rückfahrt stelle ich ihm die Frage, warum er es für pädagogisch nötig hält, dass die Kinder auf dem Schulflur liegen und rumschießen. „Damit sie die Grundlagen bereits vor dem Militärdienst erlernen, wo sie dann mit ernsthafteren Aufgaben betraut werden können, um im Notfall, auch wenn wir natürlich nicht hoffen, dass es dazu kommt, das Vaterland gebührend verteidigen können.“ Das sei eben ein wichtiger Teil der patriotischen Erziehung der Jugend. Da ist sie wieder, diese Floskel.
„Ich weiß schon“, ergänzt er, „bei euch hat der Begriff Patriotismus eher eine negative Bedeutung, aus irgendwelchen historischen Gründen. Das geht aber wieder vorbei und dann habt ihr da auch wieder ein gutes und normales Verhältnis zu.“ Ich schaue ihn erst mal verdutzt an und sage dann, dass ich das weder für normal halte, noch das ich hoffe, dass das vorbeiginge, wie er es nennt. Daraufhin schaut er mich erstmals verdutzt an. Manchmal ist es eben nicht einfach nur ein sprachliches Problem, wenn man sich gegenseitig nicht ganz versteht. Ich blicke lieber wieder aus dem Fenster auf die verschneite Landschaft des Vorural und suche erneut die Stimmung des still-entrückten baschkirischen Dorfes aufkommen zu lassen. Irgendwie fühlt sich diese vermeintlich verschwindende Welt gerade angenehmer an.
Matthias Kaufmann, Februar 2014