Bemerkungen über die vor kurzem in Berlin eröffnete Gedenkstätte für sechs Millionen ermordeten und gefolterten Juden aus Europa – über das Berliner JAD-WASCHEM…

An diesem Ort kann man nicht einfach so vorbeilaufen. Zum einen, befindet er sich nur 500 Meter vom Brandenburger Tor und dem Bundestag entfernt. Das heißt, er befindet sich direkt im Zentrum Berlins und ist Anziehungspunkt für zahlreiche Touristen aus der ganzen Welt. Zum anderen, sprach und stritt man so viel darüber, sowohl auf dem Bildschirm, als auch auf den Seiten aller möglichen Printmedien, dass auch diese Gedenkstätte in die Touristenroute unter „obligatorische“ Punkte aufgenommen worden ist.

Das Bauwerk selbst besteht aus 2711 in Reihen aufgestellten Betonblöcken, deren Neigungswinkel von einem halben bis zu zwei Grad beträgt. Jeder von ihnen ist einen Meter breit und an die zweieinhalb Meter lang, Außerdem beträgt die Höhe von 300 solcher Blöcke etwa vier Meter, von 569 Blöcken – zwischen drei und vier Meter, von 491 Blöcken – zwischen zwei und drei Meter und so weiter nach unten, die letzten 112 sind auf gleicher Höhe mit dem Boden. Das Ganze befindet sich auf einer Fläche von 13.000 Quadratmetern.

Was ist denn das? Ist es ein Museum unter freiem Himmel, ein Denkmal, ein Mahnmal oder einfach nur ein Platz, vollgepflastert mit Betonblöcken? Wozu stehen sie da? Was soll das darstellen? Verhöhnung, Friedhof, moderne Kunst?

Es ist eine schwere MAHNUNG, im wahrsten Sinne des Wortes, an jeden, der versucht, den HOLOCAUST zu vergessen oder ihn vergessen will. Hier kann niemand gleichgültig bleiben, und es ist nicht diese auf einmal im Zentrum Berlins entstandene Betonanhäufung, sondern die ZONE, die einen anzieht und zwingt, durch diese schmalen Korridore zwischen den mehr als mannshohen Betonblöcken zu laufen.

Nach den ersten Schritten ist unser BESUCHER noch frei und neugierig. Hier kann man noch den Lärm der modernen Stadt hören, hier, wo das Beton noch niedriger als seine Beine ist, kann er noch die Situation kontrollieren und wird sogar etwas verärgert: „Wozu braucht man hier diese Betonblöcke? Was für ein MAHNMAL ist das?“
(An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass dort keine Führungen angeboten werden, jeder muss selbst seinen Weg auf die Golgatha (Schädelstätte) finden.)

Man geht weiter und weiter und immer weiter, Schritt für Schritt, in der Hoffnung, dass diese Betonsäulen ein Ende nehmen (beim Betreten des Säulenfeldes lässt sich nicht erahnen, wie groß die ganze Fläche ist, das kann man wahrscheinlich nur aus der Vogelperspektive sehen). Dann beginnt der BESUCHER nervös zu werden, der Korridor wird immer schmaler, und die Blöcke werden immer höher. Gefühl und Verstand sind verstört, und man hat nur einen Gedanken, wie im Traum, RAUS HIER! Doch es gibt keinen Ausgang, man muss noch weiter laufen. Hinter einem folgen die anderen. In einem solchen Moment fühlt sich unser BESUCHER MORALISCH völlig unterdrückt.

(So haben sich vielleicht auch jene von uns gefühlt, die durch die Hölle voll unmenschlicher Qualen und Tod gegangen waren, immer in der Angst gegen diese hirn- und herzlosen „Betonblöcke“, die hier dumm auf Befehl von jemandem stehen, widerzustehen zu müssen,.)

Nach ungefähr der Hälfte des Weges ist man nicht mehr ein zufälliger Passant, ein Tourist, ein Besucher oder irgendein Erdenbewohner, sondern man ist ein INDIVIDUUM… – ein DABEIGEWESENER, der alles MITERLEBT hat und MITGELITTEN hat.

Dieser MITLEIDENDE beginnt plötzlich ihre Stimmen, ihre Schreie, ihre Lieder, ihr Weinen, ihre Gebete zu hören. Er sieht sie noch am Leben: Massen von sich bewegenden Menschen, die links und rechts über ihm hängen.

Das INDIVIDUUM begreift nun, dass diese Menschen nicht mehr existieren, dass sie alle ermordet, verbrannt, vernichtet sind. Eine beklemmende Erkenntnis. Und jetzt, erst jetzt und nur so kann man vielleicht verstehen, was sechs Millionen sind.

Am Ende des Weges, dort, wo man wieder das Gras und die Sonne sieht, schnappt der Mensch nach Lebensluft und denkt dann, dass es so wahrscheinlich auch im Jenseits ist.

Unter dem Betonsäulenfeld befindet sich unterirdisch das Museum der Gedenkstätte, ein Art kleiner Bunker mit mehreren Räumen. Auch dort gibt es keine Ausstellungsstände und keine Führung.

Zuerst sieht man hier eine Computeranimation, nämlich eine Europakarte: Hier gerät das von der Betonstadt verwirrte INDIVIDUUM in das Reich der Fakten und Informationen mit Fragen und den dazugehörigen Antworten: Wo? Wieviel? Wann? (1933 bis 1945) Hier gibt es auch Informationen über die Vernichtung anderer nicht-jüdischer Bevölkerungsgruppen durch die Nationalsozialisten. Dieser Raum trägt den Namen „Nullpunkt“.

Als nächstes kommt der „Familienraum“. Hier sind Material über fünfzehn jüdischen Familien ausgestellt, die in verschiedenen europäischen Ländern gewohnt haben: in Polen, Deutschland, Weißrussland, in der Ukraine, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und so weiter (entsprechend der heutigen Staatsgrenzen).

Zu diesem Material gehören vor allem Familienfotos: Geburten, Hochzeiten, Bar-Mizwas, Jubiläen, Haushalt, Ghetto, Hunger, Tod; und Kinofilme aus dem Familienarchiv. Durch welches Wunder das Ganze erhalten blieb, nur Gott weiß es! Zum Beispiel ein junger Jude aus den Niederlanden, der erst vor kurzem geheiratet hatte, hatte seine junge Frau und Verwandte sogar noch mit ins Ghetto genommen. Auf den Straßen starben die Menschen an Unterernährung. Seine Frau und Schwiegermutter kamen mit kleinen Arbeiten durch, indem sie Änderungsschneidereien machten. Dies war angebracht, da die Menschen immer magerer wurden, und ihre Sachen ihnen nicht mehr passten. Bis zum letzten Augenblick nahm er ALLE auf, bis die ganze Familie ins KZ geschickt wurde. Was für eine Geschichte! Da war eine Familie und plötzlich ist sie verschwunden. Was gelieben ist, ist der Film.

Im „Raum der Schatten“ leben fünfzehn Erinnerungen aus der Unterwelt: Briefe, kurze Zettel, Zeichnungen.Auf dem Boden hinter einer Glasscheibe schreien und weinen, warnen und reden fünfzehn zerfleischte Männer und Frauen: „Man fährt uns irgendwohin“, „Man hat uns dahin gebracht“, „Die Frauen wollten trinken, man gab denen ihren Urin zum Trinken“, „Man versprach uns Arbeit!“, „Mutti, bring mich hier weg!“ (Diese Zitate kann man im Sitzen lesen, wenn das INDIVIDUUM ein schwaches Herz hat).

Im „Raum der NAMEN“ redet unaufhörlich eine Stimme vom Tonband: „Moses Rabinowitsch war 1898 in Warschau geboren, starb 1943 in Auschwitz. Sarra Rabinowitsch war 1899 in Warschau geboren, starb 1943 in Auschwitz“. Und so weiter… Und so weiter… Und so weiter… An der Wand ist eine laufende Zeile: „Das Lesen der Namen von Gefallenen wird sechs Jahre, sieben Monate und siebenundzwanzig Tage dauern.“

Sehr geehrtes INDIVIDUUM! Vielleicht hast du noch jemand aus deiner Familie, von dem du noch nichts weißt. Dort im „Raum der NAMEN“ gibt es Informationen über drei Millionen Ermordete, die dort einfach als X oder Y eingetragen sind, vielleicht ist es deine Urgroßmutter oder der Onkel deiner Mutter oder deines Vaters. Frage diejenigen, die sich noch daran erinnern können. Sobald X und Y ihren Namen finden, werden sie im „Raum der NAMEN“ schon in sechs Jahren, sieben Monaten und siebenundzwanzig Tagen verlesen.

Wie oben im Säulenfeld, möchte man Richtung Ausgang laufen. Aber man gerät in den nächsten Saal. Dort schreien von den Wänden die Namen: Auschwitz, Dachau, Treblinka, Buchenwald, Babij Jar und so weiter, insgesamt 200 geografische Namen. Parallel werden Archivfilme und -fotos über die Vernichtung der Juden gezeigt. Die pedantischen Henker haben es für die Zukunft akribisch gefilmt.

Weine nicht, liebes INDIVIDUUM! Hier ist es nicht angebracht unter Leuten zu weinen. Verstecke deine Tränen, lauf lieber nach oben ins Freie.

Glauben Sie niemandem, meine Damen und Herren, wenn Sie zur Diskussion aufgefordet sind, ob es ein Mahnmal sei oder nichtbzw. was es überhaupt sei. Ich habe in meinem Leben nichts Schrecklicheres gesehen.

Lassen wir unsere Kinder erst ein wenig heranwachsen, um ihnen dann all das zu erzählen, denn es muss getan werden. Aber wenn wir sie dorthin bringen, muss wir sehr gut überlegen, denn man darf keinen Hass auslösen… Immerhin werden sie hier in diesem Lande wohnen.

LAMI

Die Autorin ist russische Jüdin und lebt seit einigen Jahren in Halle.
Juni 2006