…„Zum Tag des Sieges“ – die Plakate hängen jetzt noch in ganz Ufa. Mittlerweile ist dieser Tag, der 9. Mai, schon fast zwei Monate her. Der Sieg ist jedoch nicht nur auf Plakate, Busse und Strassenbahnen gebannt, in Stein gehauen, in Stahl gegossen; sondern die Erinnerungen sitzen fest verankert im Bewusstsein der Menschen. Aber nicht nur in dem der Älteren, die unmittelbar dabei waren, sondern auch die Jüngeren erzählen mit stolz geschwellter Brust von den Taten ihrer Helden. Mittlerweile ist die Kapitulation Deutschlands nun schon 61 Jahre her. Und das Thema ist aktuell wie eh und jeh. In Deutschland genauso, wie hier in Russland.
Für mich war es eine absolut neue, verwirrende und prägsame Erfahrung diesen Tag in Russland mitzuerleben. Obwohl ich mich unmittelbar an diesem Tag gar nicht in Ufa befand, bekam ich doch unheimlich viel mit, da das Spektakel bereits am 5. Mai begann und mir natürlich auch davon erzählt wurde, wie z.B. der Präsident Baschkortostans im Park des Sieges eine Rede hielt. Überall sah man Plakate auf denen den Einwohnern gratuliert wurde und z.T. noch Propaganda zu lesen war, wie „Auf nach Berlin!“ oder ähnliche Sprüche. Man konnte bereits Glückwunschkarten kaufen, von den Bussen und Bahnen prangten den Veteranen gewidmete Danksagungen, es fanden Kranzniederlegungen statt und man sah etliche alte Männer in Uniformen, an denen all ihre Auszeichnungen angebracht waren. Obwohl ich dem Tag und diesem gesamten Drumherum sehr skeptisch gegenüber stand wollte ich mich diesem Ereignisses nicht verschliessen, und so ging ich zu einer der vielen Kranzniederlegungen. Als mein Arbeitskollege Sergej und ich an dem Denkmal ankamen, wo die Zeremonie stattfinden sollte, war diese schon in vollem Gange. An diesem warmen Vorsommertag hatten sich dort mindestens 70 Menschen versammelt um der Gefallenen zu gedenken und den Veteranen zu danken. Auch die Jungen und Mädchen des Vereins „Pioniere Baschkortostans“ waren zahlreich erschienen, und schon von weitem leuchteten ihre Halstücher. Die Kranzniederlegung war geprägt von Dankesreden aller möglichen Persönlichkeiten, wobei natürlich auch die Pioniere zu Wort kamen. Begleitet wurde das Gedenkfeier von einer Blaskapelle, und auch das Fernsehen war vertreten. Als bekannt wurde, dass Deutsche gegenwärtig sind, mussten sie, aus welchen Grund auch immer, ein Interview mit uns durchführen, welches, wie ich von einer Freundin erfuhr, sogar ausgestrahlt wurde. Im Anschluss an das Ereignis gingen wir geschlossen zu einem Wettbewerb. Ein Wettbewerb bei dem von jungen Männern und Frauen, meiner Meinung nach Studenten oder Schüler, Kriegslieder für die Veteranen gesungen wurde.
Wir wurden an diesen Tagen auch gefragt, ob wir nicht mit von Tür zu Tür ziehen wollen, um den Veteranen zu danken und Blumen zu überreichen. Auch im Kinderheim, in dem ich arbeite, habe ich festgestellt, dass das Verhältnis zum Thema Krieg ein vollkommen anderes ist und man hier deutlich spürt, dass der Krieg gewonnen wurde. Sie bereiteten zum 9. Mai ebenfalls ein Konzert vor, bei welchem sie Kriegslieder vortragen wollten. Ich war bei einer Probe dabei und war ziemlich erschrocken, als mitten im Lied, dieses plötzlich stoppte, einer der Kleinen nach vorn trat, den Hitlergruss machte, „Heil Hitler!“ rief und dann umfiel. Des weiteren musste jedes der Kinder auch ein Bild zum Thema Krieg malen. Ich fragte mich, ob es solch eine „Pflichtaufgabe“ in Deutschland geben würde.
Es war eine seltsame Zeit für mich. Ich war mit einem Tag konfrontiert worden, den ich noch nie auf solch eine Art und Weise wahrgenommen und mich noch nie mit ihm auseinandergesetzt hatte. Klar lernten wir in der Schule, dass der 8. Mai, hier der 9. aufgrund der Zeitverschiebung, der Tag der Kapitulation Deutschlands war und somit das Ende des 2. Weltkrieges in Europa kennzeichnet. Aber das andere Länder diesen Tag auf solch eine Art und Weise feiern wusste ich nicht. Ich war ein wenig überfordert und wusste nicht, was ich denken soll und wie ich das alles auffassen sollte. Meine Stimmung schwankte zwischen Unverständnis und Interesse.
Am Montag, 19.06., fand, organisiert vom DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst), ein Abend zum Thema „Gesten der Vesöhnung“ statt. Es wurden Kurzfilme junger russischer Regisseure zum Thema 2. Weltkrieg gezeigt. An diesem Abend habe ich während einer regen Diskussion wieder sehr deutlich gemerkt, wie weit die Meinungen von Russen und Deutschen auseinander gehen, und dass sehr viele Menschen einfach den Fehler machen das Thema zu einseitig, nur aus einem Blickwinkel, zu betrachten. Auch ich habe das Thema bis zu diesem Tag, was sicherlich auch normal ist, nur aus der Sicht eines Deutschen betrachtet. Ein russischer Zuschauer machte die Bemerkung, dass ihm in den Filmen der Dank der Deutschen gegenüber den Russen fehlte. Diese Situation war vergleichbar mit der Frage, ob wir nicht den Veteranen danken wollen. Natürlich bin ich dankbar, dass Hitler gestoppt wurde. Aber nichts desto trotz war der Zweite Weltkrieg der größte und blutigste Konflikt in der Menschheitsgeschichte, bei dem etwa 55 Millionen Menschen starben. Ich als Kriegsgegner würde nie einem Menschen danken, der andere Menschen umbringt. Und so ist es für mich auch schwer nachvollziehbar, dass die Russen mehr oder weniger erwarten, dass wir dankbar ihnen gegenüber sind. Es ist ein Fakt, dass die Russen wesentlich dazu beigetragen haben, den Nationalsozialismus zu stoppen, aber das auch erst, nachdem von deutscher Seite der Hitler–Stalin–Pakt gebrochen wurde. Und nicht zu vergessen ist auch, dass durch die Soldaten der Roten Armee und deren Verbündete während des Vormarsches gegen Kriegsende europaweit 4 Millionen Frauen, davon ca. 2 Millionen Frauen in Deutschland (mit 240.000 Todesfällen in Folge) vergewaltigt wurden.
Aus einer gewissen Distanz betrachtet, ist das Verhalten uns Deutschen gegenüber lange nicht mehr das Thema, welches bei mir auf Unverständnis stösst.
Generell betrachte ich hier das gesamte Verhalten in Bezug auf den Krieg sehr distanziert und kritisch.
Warum wurde mit keinem Wort der Frieden erwähnt und warum feiert man nicht diesen, sondern ausschliesslich den Sieg!??
Warum werden die Veteranen so hochgejubelt und Kinder geschickt, um ihnen zu danken, zu ihnen aufzusehen, sie zu verehren, so daß sie letztendlich auch auf diese Art und Weise ein Held des Vaterlandes werden wollen und ebenfalls Menschen töten würden!?
Warum sieht man vor Kriegsdenkmälern Gruppen von Kindern mit Spielzeugwaffen in der Hand stehen, die sich von ihrer stolzen Erzieherin fotografieren lassen, und wozu stehen in Parks Panzer, auf denen Kinder klettern können!?
Warum wird der Krieg so verherrlicht, obwohl doch die Sowjetunion mit 20 Millionen getöteter Soldaten und Zivilpersonen am stärksten betroffen war vom Zweite Weltkrieg!?
Vielleicht kommt mir die gesamte Situation nur auf Grund unseres verkorksten Verhältnisses zu unserem Nationalstolz und geprägt durch unsere Geschichte so vor. Aber, erschreckt hat es mich auf alle Fälle.
Wir sollten das Geschehene nie vergessen und daraus unsere Schlüsse ziehen. Aber gerade meine Generation hat unmittelbar mit dem Krieg nichts mehr zu tun. Natürlich ist das kein Appell alles zu den Akten zu legen.
Der Zweite Weltkrieg ist Geschichte und unsere Aufgabe ist jetzt nur aufzupassen, dass sich so etwas nicht wiederholt. Vielleicht schaffen wir es allen Opfern damit zu danken, dass wir in Zukunft Lösungen finden, bei denen keine Menschen mehr sterben müssen. Denn ein Krieg ist, auch wenn man ihn gewinnt, nicht die optimale Lösung.
Katrin Hennig, 23.Juni 2006