Freitagabend, es geht rüber zu den Nachbarn. Gartenparty. Zwei Häuser weiter, von der anderen Seite der hohen Backsteinmauer wehen ausgelassene Stimmen und übersteuerter russischer Elektro-Pop herüber. Einer von den Jungs, die hier täglich mit ihren Fahrrädern durch die Nachbarschaft patrouillieren, öffnet von innen das Tor zum Garten.
Wir treten ein.
Vor uns eine breite Freitreppe, an deren Ende der doppeltürige Eingang zum größten Haus des Viertels, rechter Hand ein steinerner Gartenweg. Zwischen den hohen Büschen kommen uns zwei blonde Frauen aus dem Dunkel entgegen, Mutter und Tochter?
Elina stellt mich vor, ich nicke artig, die Ältere ist wohl die Hausherrin, die Jüngere, etwa Anfang 20 spricht Englisch, wir wechseln ein paar Worte. Ich folge den drei Frauen, die Luft voll vom sommerlichen Geruch nach Gegrilltem.
Am Ende des Gartens eine Pergola, ein Holzkohlegrill und ein reich gedeckter Tisch, eingelegte Tomaten und Gurken, Salat, allerlei Brot und Saucen, Hacksteaks vom Grill. Drei Männer, die Wodkagläser gerade absetzen. Zwei weitere blonde Frauen stellen sich mir vor. Schwierigkeiten beim Namensaustausch, die Musik ist laut, der Alkohol tut sein übriges. Einer der drei Herren, von seinen Freunden Bär genannt, ist bereits schwer angeschossen, fragt mich mindestens dreimal nach meinem Namen.
Erst mal hinsetzen. Iss!, sehr gerne, Fragen beantworten, ich die Hauptattraktion, nicht schlimm, einen ersten Wodka trinken. Man fühlt sich nie fehl am Platz, die Kunst der russischen Gastfreundschaft.
Nach hiesiger Tradition bekomme ich eine Führung durchs Anwesen, drei Stockwerke, dunkles Holz, Print-Tapeten, flauschige Teppichböden, breite Flure, übergroße leere Räume, halbrunde Schlafzimmer mit passenden Betten, Sauna und Pool, Billardraum.
Der besondere Stolz der Hausherrin aber: exotische Pflanzen und Fische, die in einem glasüberdachten Raum im oberen Geschoss zu Hause sind.
Zurück am Essenstisch, Fragen über meine Billardvergangenheit beantworten, noch einen Wodka trinken mit dem Hausherrn. Er hat diese leicht basedowschen Augen, die immer wirken wie mit Kajal umrandet, dazu die platinblond gefärbten Haaren, er sieht aus wie ein Schauspieler auf der Bühne, Unecht. In Ermangelung eines Namens werde ich ihn H. nennen.
Dann mit ihm und seinem nicht ganz so betrunkenen Freund R. ins Heiligtum, den Billardraum.
Die Kinder werden liebevoll, aber bestimmt, verscheucht. Hier ist Billard noch etwas wozu sich die Männer treffen, um ungestört einen zu trinken. Ein 12-Fuß Ungetüm von einem Billardtisch, ein alter Sessel, ein kleiner Tisch, eine Musikanlage, die Wände nur halb verputzt. Beim ersten Spiel schau ich zu, erst mal die Regeln lernen. H. gewinnt, darauf ein Paartanz mit seinem Queue zu irgendeinem Modern Talking Hit der aus der Anlage dröhnt, Retro FM.
Jetzt bin ich an der Reihe, die ersten beiden Bälle gehen rein, danach lehren mich die brutal engen Taschen Demut. Ich verliere 2 Mal, darf danach wieder dem Schauspiel zusehen. Der groß gewachsene H. tanzt um den Tisch, das kurzärmlige Hawaii-Hemd und die löchrigen Jeans flattern um seinen dürren Körper, im Gegensatz dazu sein Freund R., eine Kugel in einem strammen Jogging-Anzug, von Stoß zu Stoß rollend.
H. flucht auf Russisch, will mir weis machen, das sei ein chinesischer Ausdruck für „knapp vorbei“ – bestimmt!
Die Tür zum Garten öffnet sich, der dritte Herr kommt hereingewankt, verabschiedet sich, fragt mich zum vierten Mal nach meinem Namen, erntet ein paar belächelnde Blicke von seinen Kumpels. Er ist kaum 10 Sekunden weg, da öffnet sich die Tür wieder, eine der blonden Frauen schaut herein, sagt etwas mir unverständliches auf Russisch. H. verschwindet kurz irgendwo im Haus, kommt zurück mit einer halbtransparenten Plastiktüte, der Inhalt sieht aus wie Geldscheine. Er drückt sie der Blonden in die Hand, die uns daraufhin wieder verlässt.
Wo das Spiel gerade eh unterbrochen ist, gleich mal noch einen Wodka, auf die Freundschaft, auf das Spiel! Ein Schluck Gurkenwasser zum Nachspülen, ein Stück Fleisch, und frisch gestärkt ans Werk.
Vorsichtshalber hat H. ein bisschen Verpflegung eingepackt, bei unserem Umzug vom Garten in den Billardraum, alle 2-3 Spiele eine kurze Pause am Spanholztisch an der Wand, ein Glas, ein Schluck, ein Stück. Und als die Hausherrin im Bett ist, wird auch drinnen geraucht, aber nur bei offener Tür.
So vergeht die Nacht im Takt der gespielten Frames, der geleerten Gläser und der gerauchten Zigaretten, der erzählten Witze und der gerufenen Flüche. Einmal, schon spät in der Nacht, klingelt ein Handy, H. und R. telefonieren abwechselnd, ein junge Männerstimme am anderen Ende, ich verstehe nicht worum es geht, nur ein Wort: Auto.
Irgendwann, vielleicht um Drei, geht R., H. deutet mir pantomimisch in seiner schelmischen Art, R. müsse nach Hause, seine Frau, sie habe ihn voll im Griff.
Jetzt alleine mit H., dieser Mann, eine Erscheinung wie aus einem Scorsese Film, ein derber Spaßvogel, ein Familienvater und freundlicher Gastgeber, aber irgendwo darunter eine unberechenbare, kindliche Aggressivität. Joe Pesci-mäßig.
Wir machen noch 2 Spiele, ich gewinne mal eins, dann ist´s genug. Nach 4 Stunden Billard und mehr, trete ich raus in die frische Nachtluft. H. begleitet mich zum Garten-Tor, bietet mir noch eine letzte Zigarette an, im Schein der Straßenlaternen verabschiede ich mich. Erst 200 Meter weiter, als ich in unseren Garten einbiege, verschwinde ich aus seinem Blickfeld. Als ich die Haustür aufschließe fangen bereits die Vögel an zu singen, an diesem milden russischen Frühlingsmorgen.
Viktor Sommerfeld, Mai 2014