Dreitausend Studenten aus Halle, Leipzig, Dresden und anderen deutschen Städten nahmen am 24. November 2009 an der Demonstration im Zentrum von Leipzig teil. Die Unzufriedenheit der Studenten wird verursacht von einer totalen Unterfinanzierung der Universitäten, übervollen Lehrräumen und einem sozialen Ungleichgewicht im Hochschulbildungs- system.
Die Studenten protestieren schon seit dem letzten Frühling. Mündel der Universität Halle-Wittenberg treten gegen moderne Bildungsreformen an, die dazu führen, dass die jungen Leute keine Wahlfreiheit und keine Möglichkeit haben, das Kenntnisniveau zu erhöhen. Die Hallenser haben den Audimax (den größten Hörsaal) besetzt und verkündet, ihn bis zum Ende des Semesters als Treffpunkt zu nutzen.
Im neuen Studienjahr stimmen den Besetzern der Martin-Luther-Universität die Studenten aus mehr als 30 Städten Deutschlands zu. Eine Welle von Streiks breitete sich deutschlandweit aus, in den gröβten Hochschulen wurden die Hörsäle besetzt. Am 17. November demonstrierte man in 35 Städten. In dieser Woche versammelten sich Studenten im Zentrum von Leipzig, wo die Hochschulrektorenkonferenz geplant war, und alle konnten das Ausmaß der studentischen Unzufriedenheit spüren. Unweit vom Hautbahnhof sammelte sich eine unglaubliche Anzahl von Demonstranten. Mit Plakaten, Transparenten mit Texten, die wie Notschreie klingen: “ Keine einzige Entscheidung ohne uns”, mit Lautsprechern und Pfeifen setzte sich die Demonstration in Richtung Rathaus in Bewegung. Und von da aus gingen die Teilnehmer des Marsches über die Universitätsstraβe bis zur Landesverwaltung.
Um zu verstehen, was dreitausend unzufriedene Studenten sind, muss man in diesem aufgeregten Gedränge sein, wie sie in großer Einigkeit forderten: “Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut!”, ihre empörten Gesichter sehen ohne zu verstehen, wie das alles in einem Land möglich ist, indem die Bildung ein Prioritätsbereich des Staates ist.
Nach den jüngsten Bundestagswahlen, als Liberale und Konservative an die Macht gelangten, wurde ein Koalitionsvertrag ”Wachstum.Bildung.Zusammenhalt” heraus- gegeben, in dem alle Ziele der deutschen Regierung genannt wurden. Das Wort “Bildung” im Titel des Dokuments zeugt von der Bedeutung dieses Sektors für die Regierung. So war es immer. Bis zur letzten Zeit.
Erstens spielt Geld eine wichtige Rolle. Seit 2005 dürfen die Universitäten Deutschlands Studiengebühren nicht nur von ausländischen Studenten erheben. Vier Jahre später zahlte man schon von 100 bis 500 Euro pro Semester und das fast überall. Und das, obwohl man jährlich Millionen Euro investiert, damit junge Leute eine freie Hochschulbildung bekommen können. “Öl ins Feuer” goss die Nachricht, dass die regierende Koalition vor hat, Stipendien in Höhe von 300 Euro für die besten Studierenden einzuführen, unabhängig von ihrem eigenen Einkommen oder dem ihrer Eltern. Die erfolgreichsten Studenten sind in der Regel diejenigen, die sich ohne Rücksicht auf materielle Bedingungen mit der Wissenschaft beschäftigen können: sie haben schon alles!
Die Studierenden, die diese Finanzhilfe brauchen, können dem Studium kaum so viel Zeit schenken, wie sie möchten, weil sie für Universität und Alltagsleben verdienen müssen. Zum zweiten Grund wurde die europäische Bildungsreform, die Einführung des Bachelor-Master-Systems im Hochschulbereich.
Der sogenannte Bologna-Prozess soll sogar aus Sicht derjenigen korrigiert werden, die kaum um Geld besorgt sind. Das neue Programm ändert radikal das ganze Bildungssystem. Wenn jeder Studierende früher alle Fächer, Seminare und den Studienplan selbst wählen konnte, um sein Leben am vernünftigsten zu organisieren, dann ist das System jetzt ganz verschult. Der Student soll gerade alle Vorlesungen besuchen, immer im Unterricht anwesend sein und unzählige Prüfungen bestehen. Statt der Freiheit und Selbständigkeit kommen Vorschriften. Anstatt der Qualität von Kenntnissen und Zeit zum Begreifen – Einpaukerei. Sogar die Lehrkräfte stimmen zu, dass die Studenten in Rahmen der “gepressten” Studienzeit und des inhaltsvollen Lehrstoffs nur oberflächliche Kenntnisse bekommen können. Diejenigen, die bereit sind, sich drei Jahre lang als Bachelorstudierende für einen Masterstudiengang zu quälen, haben aber keine Garantien auf die zukünftige Bildung. Zu Masterstudierenden werden nur die Gewählten. Allerdings ist noch nicht klar, von wem…
Jedoch glaubten sogar die hartnäckigsten Kritiker an die Zweckmäβigkeit des Bologna-Prozesses, der erst im Juni 1999 eingeführt wurde. Das Bildungsniveau in allen europäischen Ländern vergleichbar zu machen, die studentische Mobilität und Beschäftigungsfähigkeit zu fördern sind gute Ziele, nicht wahr? Beeindruckt von diesen Ideen hat man schon in 90 Prozent der deutschen Universitäten den Bologna-Prozess umgesetzt. Und Anfang 2010 wird ein einheitliches europäisches Hochschulwesen bis zum Ende umgesetzt sein. Das Rad des Bologna-Prozesses kann man nicht zurückdrehen. Nur seinen Lauf korrigieren…
Die Reformierung der Reform??? Und wenn die Zuständigen diese Frage besprechen, fordern die jungen Leute: ”Heben Sie dieses unklare System sofort auf! Geben Sie Ihren Irrtum zu und überlegen Sie nochmals! Die Zukunft des Landes ist in unseren Händen. Und wie sich das Land später entwickelt, hängt im Groβen und Ganzen von unserer Bildung ab.” Am 10. Dezember ist eine Demonstration in Bonn geplant, wo die Kultusministerkonferenz stattfindet. Die Deutschen sind es nicht gewohnt auf etwas zu verzichten, worauf sie ein Recht haben…
P.S.: Es hat zahlreiche weitere Protestaktionen in Österreich, Belgien, Spanien und Frankreich gegeben.
Julia Baydzhanova, Sofya Kovalenko, November 2009