Am frühen Morgen 3. Oktober – es war Dienstag – ich saß in unserem Büro. Der gewöhnliche Arbeitstag begann. Die Tür ging auf, und Andrej kam rein. „Was machst du denn hier?“ fragte er. „Heute ist frei. Feiertag. Steh auf, gehen wir!“ Und wir machten uns auf den Weg.
Der 3. Oktober ist der Tag der Deutschen Einheit. An diesem Tag wurden die zwei Staaten, BRD und DDR, wieder eins. Genauer gesagt nicht ganz an diesem Tag. Dieses Ereignis fand am 9. November statt, aber – was für ein Unglück – es kam so, dass sich am 9. November auch einer der größten Nazi-Pogrome, die „Kristallnacht“, ereignete. Wie ihr sicherlich versteht, ist es gerade ungünstig an diesem Tag zu feiern, besonders für Deutsche, die sich so gern von diesem Kapitel aus der Vergangenheit zu distanzieren versuchen… So hat man das Fest auf den 3. Oktober „verlegt“ – an diesem Tag wurde in der DDR eine friedliche Demonstration für die Wiedervereiniguing mit dem westlichen Nachbarn zum ersten Mal von der Polizei nicht aufgelöst.
Die Deutschen, wie wir schon mehrmals erwähnt haben, können feiern und tun es sogar gern. Gewöhnlich ist das Volksfest wirklich eine Volksveranstaltung: mit Schwung, für zwei/drei Tage, überall stehen Bühnen, Karussells, Unterhaltungsshows, Märkte, die meistens an verschiedenen Orten der Stadt durchgeführt werden, ab und zu eine Parade und Feierumzüge, fast immer irgendwelche kostümierte Vorführungen und Happennings…
Am 3. Oktober 2006 war der Marktplatz, der zentrale Platz der Stadt, jedoch leer. Selbst die bekannten Händler mit ihren Läden voll von Früchten, Blumen und Süßigkeiten waren irgendwie weg, selbst die beweglichen Snackstände gab es nicht. Die Stadt war leer. Kalter herbstlicher Sprühregen fiel nieder. Auf der ganzen Leipziger Straße, meistens voll mit Menschen, begegneten wir kaum zehn Passanten. Es gab keinen Lärm und kein Gedränge, die Geschäfte blieben zu, die allgegenwärtigen Würstchengrills, Straßenmusikanten, Bettler, sogar dieser eine hallesche Obdachlose da (mancher Leser kennt ihn) waren verschwunden. Die Stadt schien augestorben. Die Menschen kamen auf die Straßen erst nachmittags: Verschlafene und Geschäftige, Langsame und Eilige, aber auf keinen Fall feierlich Gesinnte.
Einmal zog an den Fenstern unserer Wohnung eine „Demonstrantenmenge“ – an die 30 Personen mit einem Plakat „Halle-Front“ vorbei. Ein kläglicher Anblick – es gab fast zweimal so viele Polizisten, wie „Demonstranten“.
So ging der Feiertag zu Ende. Am Abend wurde es dunkel, und die Stadt ging ins Bett, um morgens aufzustehen und wie gewohnt, dem Fluß der Zeit entlang weiterzuleben.
Die Deutschen selbst sagen, dass dieses Fest ihnen fremd sei. Alle, die wir gefragt haben, antworteten, dass dieses Fest offiziell sei, für sie sei es ein zusätzlicher arbeitsfreier Tag. Am 3. Oktober fand in Kiel eine festliche Zeremonie statt, wo sich die Bundeskanzlerin Angela Merkel und andere, die man „offizielle Figuren“ nennt, versammelt haben. Und das war alles. Für das restliche Deutschland ist der 3. Oktober einfach nur ein Tag, an dem man ausschlafen kann.
Aber, ich habe mehrmals die Bilder im Fernsehen gesehen, damals gingen sie um die ganze Welt: der Fall der Berliner Mauer, der Durchbruch der Grenze, die Freude, die Massenverbrüderung, die glücklichen Leute… Wieso wird dann der Tag der Deutschen Einheit nicht gefeiert? Wir haben uns erkundigt, aber einen „inoffiziellen“ Tag der Deutschen Einheit gibt es auch nicht. Keiner braucht so etwas. Die Wiedervereinigung brachte viele Probleme mit sich. Für die Westdeutschen ist es der Abgrund, der einen wesentlichen Prozentsatz der Steuern frisst, die „Wessis“ abführen müssen, und wovon man nicht mit einem Rückfluss rechnen kann. Für die „Ossis“, die Ostdeutschen, gab es die Wiedervereinigung irgendwie… kaum. Sie betrachten es eher als Eintritt der DDR in die BRD, und das, wie ihr wohl zugeben werdet, wäre eine ganz andere Situation. Und für viele von ihnen ist der 57. Geburtstag der DDR, der 7. Oktober, eine größere Feier (natürlich mit einem großen Anteil an Scherz), als die offiziellen Feierlichkeiten zum 3. Oktober auf staatlichem Niveau.
So stellte sich heraus, dass das laute Fest zum leeren Tag wurde. Wisst ihr, woran diese ganze Situation uns erinnert? „Der Tag des 7. November ist ein roter Tag im Kalender“ (Anm.d.Red.: Auszug aus einem sowjetischen Gedicht für Kinder)… Es ist dieselbe Feier für nichts, das betrogene Fest, das Fest ohne Leute…
So bleibt uns nur mit Pathos unseren deutschen Freunden zu wünschen, dass irgendwann der Tag der Deutschen Einheit wirklich ein Volksfest wird, und uns damit vom Leser zu verabschieden.
D. Mukhametkulov, A. Vasiliev, 09.10.2006