Das Opferfest „Eid al-Adha“, oder wie es auf Russisch auch genannt wird, „Kurban Bajram“, ist einer der wichtigsten Feiertage im islamischen Festkalender und bildet den Höhepunkt der Hadsch, der Pilgerfahrt nach Mekka. Da es jedoch nicht jedem Muslim möglich ist, diese Reise anzutreten, so sollte zumindest der Teil der Opferung vollzogen werden, was an jedem beliebigem Ort geschehen kann. In den russischen Republiken mit einer überwiegend muslimischen Bevölkerung ist Kurban Bajram ein allgemeiner Feiertag – so auch in Baschkortostan.
Die Bezeichnung Kurban Bajram hat als Übernahme aus den Turksprachen in den russischen Wortschatz Eingang gefunden. Der Begriff Bajram lässt sich mit Feiertag übersetzen, Kurban ist die Bezeichnung für das rituelle Opfer, das den wesentlichen Kern des Festes bildet. Erinnert wird dabei an den Propheten Ibrahim (bzw. Abraham im Alten Testament), dem im Traum der Erzengel Gabriel erschienen ist und ihm im Namen Allahs auftrug, seinen ältesten Sohn zu opfern. Er sollte so seine Gottergebenheit unter Beweis stellen. Im letzten Moment allerdings ersetzte Allah den Jungen durch ein Lamm. Ibrahim hatte seine Bereitschaft ausreichend demonstriert und somit die göttliche Prüfung bestanden. In Anlehnung an diese Überlieferung sollte während des Festes, das insgesamt drei Tage dauert, jeder männliche Muslim, der er sich finanziell leisten kann, ein Tier opfern bzw. opfern lassen und dabei anwesend sein. Neben Schafen sind offiziell auch Kamele und Kühe als Opfertiere anerkannt, deren Anschaffung allerdings um einiges teurer wäre.
Das Opferfest findet 40 Tage nach Beendigung des Fastenmonats Ramadan statt. Wie alle religiösen Feiertage im Islam ist auch Kurban Bajram ein beweglicher, das heißt, er „wandert“ durch das Jahr, da er auf Grundlage des kürzeren Mondkalenders festgelegt ist. Die Daten verschieben sich so jedes Jahr um 11 Tage nach hinten. 2013 fiel der Beginn des Opferfestes auf den 15. Oktober.
Mit Sonnenaufgang, zu dieser Zeit des Jahres gegen neun Uhr früh, beginnt das feierliche Morgengebet. Für gewöhnlich füllen an diesem Tag die Gläubigen in dichten Reihen die Moscheen. Keine Ausnahme bildet die Pervaja Sobornaja Metschet, das älteste und bis heute eines der bedeutendsten muslimischen Gotteshäuser in Ufa. Ich selbst treffe erst ein, kurz nachdem das Morgengebet beendet ist und gerade eine große Menschenmenge hinaus auf den Hof strömt. Ich bin dort mit Ilnar vom Austausch Ufa-Halle verabredet, der selbst zuvor am Feiertags-Namaz – so die Bezeichnung der täglichen fünf Pflichtgebete – teilgenommen und sich bereit erklärt hat, mich etwas herumzuführen und mir genaueres über das Fest zu berichten.
„Normalerweise sind hier nicht so viele Leute“, hält er zunächst einmal fest, als wir die Moschee betreten, denn trotz der zuvor herausgeströmten Massen befinden sich immer noch zahlreiche Gläubige innerhalb des Gebäudes. „Vor dem Feiertagsgebet ist, wie sonst auch, die rituelle Waschung zu vollziehen. Man beginnt mit den Händen inklusive den Handgelenken, spült danach den Mund aus und reinigt die Nase durch ein- und ausatmen des Wassers. Danach wäscht man sich das Gesicht, reinigt den rechten und dann den linken Unterarm, fährt sich mit nassen Händen durch die Haare und befeuchtet die Ohren. Ganz zum Schluss wäscht man erst den rechten und dann den linken Fuß.“ Erst dann ist man gereinigt für das anschließende Gebet. Idealerweise sollte vor dem Namaz auch nichts gegessen werden. Anders als beim Freitagsgebet hält der Imam an diesem Tag seine Rede nicht vor dem Gebet, sondern danach. Als wir den Hauptraum mit der Gebetsnische betreten, gibt er gerade ein Fernsehinterview. Die Gläubigen, die sich jetzt noch in der Moschee befinden, stehen in kleinen Gruppen beieinander und reden oder sitzen verteilt um die Mullas, die singend Suren aus dem Koran rezitieren. In grünen Boxen kann man ihnen dafür Geldspenden hinterlassen.
Wir verlassen die Moschee und bewegen uns in Richtung eines angrenzenden Geländes, auf dem die Schlachtungen stattfinden. Die Schafe, die auf diesem Hof in einem Gehege versammelt ihres Schicksals harren, stehen nicht mehr zum Verkauf, sondern sind alle vorbestellt. In einer kleinen Seitenstraße in unmittelbarer Nähe der Moschee hingegen werden noch Schafe verkauft. In dichten Reihen stehen hier mehrere Lastwagen nebeneinander, von deren Ladeflächen herab die Tiere angeboten werden, einige liegen auch vor den Fahrzeugen auf dem Boden. Eine der Verkäuferinnen nennt uns den Preis von 4000 Rubel für eines ihrer Exemplare. „Das ist billig“, versichert sie, „die Tiere sind klein.“ Ein gesundes und wohlernährtes Tier kostet im Durchschnitt zwischen 5000 und 6000 Rubel. Die hier verkauften Tiere werden, ebenso wie die vorbestellten Schafe, zur Schlachtung in eine für die Opferungen hergerichtete Baracke auf dem Moscheegelände gebracht: entweder werden sie getragen, an einem Seil hinter sich hergezogen oder, wie ich gleich bei meiner Ankunft beobachten konnte, in einer Schubkarre liegend dorthin geschoben.
Als wir in die Baracke hineingehen, hängen in mehreren Reihen bereits jeweils drei bis vier Schafe mit abgezogenem Fell. Auf dem Boden liegen, an den Beinen zusammengebunden, die noch lebenden Tiere. Die Menschen stehen dichtgedrängt und beobachten das Geschehen, eine Frau hockt am Boden und fährt mit ihrer Hand einem Schaf durch das Fell, sichtbar um es zu beruhigen. Im allgemeinen verhalten sich die Tiere jedoch auffällig ruhig. „Eigentlich ist es Frauen und Kindern nicht gestattet, bei den Schlachtungen anwesend zu sein“, bemerkt Ilnar nebenbei. Hier scheint es allerdings durchaus üblich zu sein. Auch später am Tag begegnen mir in anderen Moscheen Frauen und Kinder, die den Opferungen beiwohnen.
Mittlerweile wurde eines der noch lebenden Schafe zur Tötung vorbereitet. „Das Tier ist mit dem Gesicht in Richtung Mekka ausgerichtet“, flüstert mir Ilnar zu. Ein anwesender Mulla wird spricht einige Worte über dem Tier, seine beiden Hände mit den Handflächen nach oben vor sich haltend. Auf meine Frage, was der Mulla gesagt hat, antwortet Ilnar: „Das ist die übliche Formel, die vor jeder Opferung gesprochen werden sollte: ‘Bismillah Allahu Akbar’, was soviel heißt wie ‘Im Namen Allahs, Allah ist der Größte’.“ Diese Formel kann aber im Prinzip von jedem Muslim aufgesagt werden. Schließlich wird mit einem Messer die Halsschlagader des Tieres durchtrennt. Aus der klaffenden und dampfenden Wunde rinnt das Blut in einen extra dafür vorgesehenen kleinen Graben. Es heißt, dass mit dem ersten Tropfen Blut demjenigen, der das Tier hat Opfern lassen, alle Sünden vergeben sind. Das Tier zuckt noch für einige Augenblicke am Boden, bis es schließlich reglos liegen bleibt. Nachdem es ausgeblutet ist, wird ihm das Fell abgezogen, der Kopf abgetrennt und an den Hinterpfoten an einen Haken aufgehangen. Damit erst beginnt die eigentliche Schlachtung. Mit einem Beil wird das Tier zerlegt. „Das Fleisch wird für gewöhnlich aufgeteilt“, erklärt Ilnar. „Ein Drittel erhalten Arme und Bedürftige, ein Drittel ist für die allgemeine Verköstigung oder für Verwandte und Freunde vorgesehen und ein Drittel behält der Opfernde für sich und seine eigene Familie.“ Die meisten Leute hier tragen ihren Anteil in ganz gewöhnlichen Plastetüten mit sich fort. Ilnar lädt mich derweil ein, mit ihm zu einer weiteren Moschee zu fahren, bei der direkt vor Ort für alle Anwesenden eine Verköstigung stattfindet.
Die Gufran-Moschee befindet sich nur wenige Minuten Fahrzeit entfernt. Geopfert wird hier direkt auf der Straße, entlang des Zaunes und noch außerhalb des Moscheegeländes. Nur wenige Meter auf der anderen Seite stehen halb zerfallene bunte Holzhäuser. Auch hier drängen sich die Menschen an den Gestellen, an denen die Schafe hängen und geschlachtet werden. Dazwischen sieht man auch immer wieder Mitarbeiter des veterinärmedizinischen Dienstes, die auf die Einhaltung von Hygienebestimmungen achten. Ein Kamerateam des lokalen Fernsehsenders berichtet direkt vor Ort vom dem Geschehen.
Im Hof der Moschee selbst wird aus zwei großen Kesseln dampfendes Essen ausgeteilt. Aus den der Moschee überlassenen Anteilen des geopferten Tiere wird hier Plow zubereitet. Ilnar und ich reihen uns ebenfalls in die lange, dicht gedrängte Schlange ein. Als allerdings nur noch wenige Leute vor uns stehen, ist auch der zweite große Kessel geleert. Die Menschen zerstreuen sich, gehen in die Moschee oder besuchen den direkt auf dem Gelände gelegenen Friedhof, einer der ältesten islamischen Begräbnisplätze der Stadt. Ilnar führt mich in ein kleines Haus gegenüber der Moschee, einem Geschäft, in dem religiöse Artikel angeboten werden: sehr schlichte und sehr prachtvolle Koranausgaben, Kopftücher, Tjubeteikas (die Kopfbedeckung für Männer), CDs mit Aufnahmen von Koransuren, diverse Amulette. Eng stehen die Leute über die Vitrinen gebeugt und betrachten die Auslagen.
Im Anschluss an den Besuch in der Moschee und den Opferungen verbringen die meisten Gläubigen den Rest des Tages in der Regel im Kreise von Verwandten und engen Freunden. Man besucht sich gegenseitig zu Hause und macht sich kleine Geschenke. Auch für Ilnar ist es jetzt Zeit, sich zu verabschieden, wobei er mir zuvor noch eine kleine islamische Gebetskette überreicht, eine Misbaha: „S prasdnikom – zum Feiertag.“
Ich selbst begebe mich zum Abschluss noch in die Hauptmoschee Ufas, Ljalja Tjulpan, im Norden der Stadt. Den Feiertags-Namaz am Morgen hat hier Talgat Tadschuddin gehalten, Großmufti und Vorsitzender der Zentralen geistlichen Verwaltung der Muslime Russlands, die ihren Sitz in Ufa hat. Noch immer herrscht hier reges Treiben. Im Gebetsaal, der 300 Menschen Platz bietet, stehen die Gläubigen in mehreren langen Reihen, darauf wartend, das bei einem der Mullas, die verstreut um Saal sitzen, ein Platz frei wird. Ich setze mich in einer Ecke auf den Teppich, beobachte die Menschen in ihrem Feiertagstreiben und lasse das Geschehen auf mich wirken.
Kurban Bajram, so geht mir dabei vor allem durch den Kopf, verläuft in Ufa sehr ruhig. Von den Spannungen, wie sie im Vorfeld etwa – nicht zuletzt auch aufgrund der aktuellen Ereignisse – aus Moskau berichtet wurden, ist in Ufa nichts zu spüren. Zwar steht auch hier vor den Moscheen überall Polizei, allerdings in sehr viel geringer Zahl und auch ohne damit verbundener allgemeiner Sicherheitskontrollen, wie ich sie selbst schon in Moskau allein während eines üblichen Freitagsgebets beobachten konnte. Die Stimmung hier ist hingegen sehr entspannt. Die starke islamische Prägung des Stadt und der gesamten Region wird dabei direkt spürbar – und Kurban Bajram als Feiertag scheint letztlich nur ein selbstverständlicher Teil dessen zu sein.
Matthias Kaufmann, Oktober 2013