Draußen vor der Tür
Russen kennen nichts schöneres als campen und grillen. Jedenfalls die Grosstädter. Das lernte ich als Freiberger Student, wo die Prüfungsvorbereitungen stets von der russisch-kasachischen Nachbarschaft vereitelt wurden, sobald diese sich, angelockt von den ersten Sonnenstrahlen des Jahres, auf der Wiese installierte: Süße, wohlbekannte Düfte streiften ahnungsvoll mein Fenster, und von nicht fern ein lautes Magnitophon (Kassettenrekorder) mit der Diskoteka Avaria (eine russische Musikgruppe).
Es soll hier vorweggenommen werden, dass ich der deutschen Grillwut nicht minder verständnislos und intolerant gegenüberstehe und sie als angeborenen Reflex auf das schöne Wetter keinesfalls verharmlosen will. Ein Franzose, der seine Kinderjahre in Deutschland verbracht hat und nach 20 Jahren Germanoabstinenz wieder dorthin kam, sagte mir, nur wenige Assoziationen behalten zu haben, die er untrennbar mit Deutschland verbinde. Der Geruch von Würstchenbuden auf den Straßen aber habe sich unauslöschlich ins Gedächtnis gegraben, denn vergleichbares gibt es in Frankreich nicht. : ))
Aber irgendwie hat das russische Campen noch etwas anderes, Suchtcharakter. Das Grillen, also die gleichzeitige Befriedigung von Hunger und Pyromanie, ist dabei nur ein Element. Unter Campen fasse ich jetzt mehrere Ausdrucksformen eines inneren Grundbedürfnisses nach heiler Welt zusammen, so das richtige Zelten „in der Natur“ mit Eisangeln und anderem Überlebenstraining, auf welches wir gleich zurückkommen werden, das schlichte Sich-in-die-Sonne-setzen auf Balkon oder Dach, oder den Datschenkult.
Die Datsche als Kleinbetrieb und seelische Zuflucht
Nicht nur, dass für viele russische Städter der eigene Gemüsegarten ein krisensicheres Lebensmittel ist. Die Datscha ist auch ein Stück heile Welt, die man nur im Sommerhalbjahr kennt, da im Winter nicht heizbar. Auch das Wasser muss gewöhnlich von einer weit entfernten Pumpe herangeschleppt werden, die sich schwerfällig wie eine Pferdekopfpumpe bewegt, so dass man Angst hat, auf baschkirisches Öl zu stoßen. Deswegen verbleibt im Winter nichts wertvolles außer ein paar vergilbten Kochzeitschriften im Regal der Laube. Dagegen ist die sommerliche Verweildauer auf russischen Datschen höher als auf deutschen. Das bedeutet für die Erinnerung, dass auf der Datsche ewiger Sommer herrscht, und so kann man einen regelrechten Almauf- und abtrieb vieler Familien zur Datsche und zurück beobachten.
Kompromiss zwischen Datsche und Balkon ist auch das Auto, mit dem der zeitgemäße Ufaer samt Freunden und Familie am Sonntag Nachmittag an den Belajafluß fährt, den Ghettoblaster aufdreht und nach einer Vodka-Entrée das opulente Picknick zubereitet. Die Zivilisation nur 20 Autominuten im Rücken und den Nachbarn ein paar Schritte Belaja-abwärts, aber doch mit einem Hauch ruralen Friedens.
Soweit zur Theorie. (Der Autor bittet im Voraus um Entschuldigung für das Fehlen einschlägiger Literaturangaben. Verschweigen von Freizeitphänomenen in Deutschland, die denen in Ufa gegenübergestellt werden müssen, sei mit Unkenntnis der heimischen Laubenkultur oder mit antidatschoritärer Erziehung erklärt. Kritik und Bereicherungen immer willkommen.) Praktisch dargestellt sei nun das obengenannte Camping in freier Wildbahn am Beispiel des Urals. Im dichtbesiedelten Deutschland kommt es in gleicher Art kaum vor, zumal dort das Zeltaufstellen an beliebigen Plätzen zumindest theoretisch untersagt ist.
Der Ural ruft
Von Ufa aus nehme man die Elektrytschka Richtung Inser um 06.11 Uhr Moskauer Zeit. Man kann auch in Pravaja Belaja zusteigen, wem das näher liegt. Je weiter sich der Zug, der wie eine alte Berliner S-Bahn singt und etwa genauso oft hält, von der Hochhaussilhouette entfernt, desto schöner wird es. Wo kein Ort ist, hält man trotzdem und bekommt „Km 115“ mitgeteilt. Inser ist ein ausgebreiteter Ort aus vielen Holzhütten, knapp vier Bahnstunden südöstlich von Ufa, umgeben von grünen Hügeln, einer Skipiste, Bächen und sauberer Luft. Am Bahnhof dösen Hunde in den Mittag hinein. Wer weiter will, kann hier in den Zug nach Beloretsk steigen, der aus einer Lok und einem einsamen Liegewagen besteht. Auch der hält alle 5 km, wo nichts ist. Hin und wieder springen bei solchen Gelegenheiten Gestalten mit Zelt, Kind, Angel und manchmal auch diversen Sumotschkas in den Schotter. (Bei letzteren handelt es sich um karierte Großraum-Tragetaschen aus unzerstörbarer Synthetik, in denen Kochgeschirr, Bier oder weißrussische Plüschtiere platzfinden, [Anmerkung d.Red.:] um sie später im Zug den Reisenden zum Kauf anzubieten.).
Sie marschieren, wenn der Zug anfährt und nichts vergessen wurde, ein Stück am Gleis entlang, bis sie einen Abstieg zum Fluss wittern, dessen Koordinaten Bekannte per Handy übermittelt haben. Die Bekannten haben meistens schon einen Tag früher frei bekommen und diesen genutzt, um das Feuer anzuzünden. Ob dann noch etwas weiteres geschieht, hängt von den jeweiligen Gestalten ab. Sicher ist, dass sie sich zwei Tage später wieder vom Zug auflesen lassen, todmüde und in symmetrischen Mustern von Mücken zerstochen.
Ich war mit der naiven Vorstellung gekommen, vom Haltepunkt Juscha aus einen Transport in das Dorf Solnetschny zu ergattern und von dort auf den Jamantau zu steigen, die höchste Erhebung im Südural. Daraus wurde nichts, denn erstens gibt es ein Sperrgebiet, in welchem wahrscheinlich vom Aussterben bedrohtes Militär wacht und nicht genehmigte Eindringlinge strafujut (ihnen eine Geldstrafe auferlegt). Weiterhin sind Wege eine Seltenheit, da hier niemand wohnt und sich die Nachfrage seitens derer, die einfach nur am Feuer in Reichweite des Gleises sitzen wollen, in Grenzen hält. Außer den Fluß-Touristen gibt es allenfalls noch Gleisbauarbeiter in roten Jacken, die irgendwo ihr Feuer angezündet haben und bei Regen wie die Heringe aneinandergedrängt unter Planen übernachten. Da mir die Sache mit dem Sperrgebiet schon im Zug auseinandergesetzt wurde, stieg ich am Haltepunkt Ajgir an der Kleinen Inser aus.
Vermutlich ist bisher der Eindruck entstanden, dieser Beitrag verspotte nur die Ufaer und ihre Freizeitlaunen aus dem Zugfenster heraus. Mitnichten, denn hier sei gesagt, dass ich sehr nette junge Leute traf und mich ihnen auch anschloss. Auf Kommando der besorgten Schaffnerin jedenfalls. Sie trafen noch andere, die per Fahrrad gekommen waren. Das waren Fahrräder, wie man sie auf den Straßen Ufas nicht zu Gesicht bekommt, nämlich so gute, dass sie in einer deutschen Kleinstadt nicht lange ungeklaut bleiben würden. Demzufolge dienten sie auch keinen täglichen Transportzwecken, sondern nur dem Outdoor-Luxus. Nach einer Rast also reichte die Zeit für die Besteigung eines Hanges westlich der Kleinen Inser, von dem aus man den großen und den kleinen Jamantau in ziemlicher Entfernung sehen konnte. Trotzdem war es ausreichend für mich, da ich am nächsten Morgen nach Inser zurückmarschieren wollte. Da den Campern, wenngleich Großstädtern, wohl sehr selten jemand aus Deutschland über den Weg gelaufen war, stieß ich nicht auf Vorurteile sondern auf richtiges Interesse, bekam dann ein Extrazelt zur Verfügung, welches laut Erklärung für unerwarteten Besuch mitgeführt worden war. Es wurde ein ganz lustiger Abend mit verschiedenen, wenn auch beiderseits erfolglosen, Liedlernversuchen und leckerer Suppe. Und das Zelt war wirklich eine gute Idee, denn ab und zu gab es einen Guss.
Wenn ihr also derzeit in baschkirischen oder rest-russischen Grosstädten seid, tut es den Einheimischen gleich und erkundet deren Freizeitgewohnheiten. Auf eine Datsche um Ufa herum mitgenommen zu werden, kann man sowieso kaum ablehnen. Schöner ist natürlich der Ural, und es gibt neben der Bahnstrecke nach Beloretsk auch die nach Tscheljabinsk, auf der man schon nach zwei Stunden in blühende Landschaften kommt.
Ich habe auch von Dörfern im Ural gehört, in denen nur noch ein paar alte Leute leben, die sehr wenig Kontakt zur Außenwelt haben. Das ist natürlich ein anderes Kapitel, das mit Datschenkolonien wenig zu tun hat, und zu dem der Zugang, ob nun mit oder ohne russische Bekannte, einige Zeit brauchen wird.
Peter Bock