Das Symbol könnte mächtiger kaum sein: an jener Stelle, an der 1918 Nikolaus II. mitsamt Frau und Kindern von den Bolschewiken erschossen wurde, ragt heute eine 60 Meter hohe Kathedrale in den Himmel. Sie ist durchdrungen vom Andenken an den als Märtyrer verehrten letzten Zaren und seiner Familie. Die „Kathedrale auf dem Blut“ in Jekaterinburg schlägt eine direkte Brücke in die vorrevolutionäre Vergangenheit und verleiht dem Selbstverständnis der Russisch-Orthodoxen Kirche damit einen regelrecht greifbaren Ausdruck.
„Die Atmosphäre ist wie mit Elektrizität geladen und ich spüre ein nahendes Gewitter“, schrieb die ehemalige Zarin Alexandra Fjodorowna im Mai 1918 in einem Brief an ihre Hofdame. Zu diesem Zeitpunkt war bereits mehr als ein Jahr seit der Abdankung Nikolaus II. vergangen. Seit August 1917 lebte er mit seiner Familie in der Verbannung in Tobolsk. Nur wenige Tage nach dem Schreiben seiner Gattin wurden sie allerdings nach Jekaterinburg verlegt, wo man sie, völlig abgeschirmt von der Außenwelt, in einem von der örtlichen Tscheka so bezeichnetem „Haus zur besonderen Verwendung“ einquartierte. Es gehörte ursprünglich Nikolai Ipatjew, einem ortsansässigem Ingenieur, und wurde Ende der 1880er Jahre als geräumige Villa an einer Hanglage erbaut. Die Tschekisten hatten es eigens zur Unterbringung der Zarenfamilie beschlagnahmt. Ursprünglich war vorgesehen, diese von Jekaterinburg aus weiter nach Moskau zu überführen, wo Niklaus II. vor einem Gericht der Prozess gemacht werden sollte. Doch dazu kam es nicht mehr, die bolschewistische Führung hatte es sich schließlich anders überlegt. Nach Öffnung der Archive in den 1990er Jahren steht außer Zweifel, dass der Befehl zur Beseitigung der Zarenfamilie direkt von Lenin aus Moskau kam.
In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli wurden sie in den Keller des Ipatjew-Hauses geführt. Unter dem Vorwand, ein Foto von ihnen machen zu wollen, da es in Moskau bereits Gerüchte über ihre Flucht gegeben hätte, ließ man sie sich in zwei Reihen aufstellen, für Alexandra Fjodorowna und den kranken Alexej wurden Stühle gebracht. Daraufhin betrat das Erschießungskommando den Raum. Ohne Umschweife erklärte Jakuw Jurowski, Tscheka-Offizier und Kommandant im Ipatjew-Haus, man habe Befehl zu ihrer Hinrichtung, woraufhin er Nikolaus II. sofort erschoss. Die übrigen Mitglieder des Kommandos eröffneten das Feuer auf die ihnen zuvor zugewiesenen Personen. Da jedoch nicht alle von den Kugeln sofort getötet wurden, mussten die Tschekisten mit ihren Bajonetten nachhelfen. Insgesamt dauerte der Vorgang ganze 20 Minuten, wie Jurowski später festhielt. Die Leichname wurden schließlich in ein Waldstück außerhalb der Stadt transportiert, dort mit Schwefelsäure übergossen, verbrannt und in einer Grube verscharrt. Alle Hinweise auf die Tat sollten spurlos beseitigt werden.
Das Ipatjew-Haus selbst blieb zunächst jedoch erhalten und diente verschiedenen musealen Einrichtungen. Allerdings entwickelte es sich nach und nach auch zu einer Wallfahrtsstätte für russische Monarchisten, weshalb im Vorfeld des 60jährigen Jahrestages der Erschießung der Zarenfamilie 1977 auf Anordnung Boris Jelzins, zu diesem Zeitpunkt erster Sekretär des Gebiets Swerdlowsk, dass Haus in einer nächtlichen Aktion abgerissen wurde. Der Verwischung aller Spuren konnte auch die Entdeckung des Grabes der Zarenfamilie 1979 nichts entgegensetzen, da die Bekanntmachung dieses Fundes während der Sowjetzeit nicht möglich war. Erst 1991 wendeten sich die beiden Entdecker an die Öffentlichkeit. Die sterblichen Überreste wurden exhumiert und eine DNA-Analyse identifizierte sie eindeutig als jene von Nikolaus II. und seinen Angehörigen.
Der Zerfall der Sowjetunion brachte auch eine ideologische Krise mit sich, in deren Verlauf es, nicht zuletzt geleitet vom von vielen Russen als demütigend empfundenes Gefühl des verlorenen Großmachtstatus, zur erneuten Aufwertung der Romanov-Dynastie und des letzten Zaren kam – vor allem als eines Symbols nationaler Größe mit historisch langer Tradition. Die Rückbesinnung und das Wiederanknüpfen an diese Tradition bilden einen wesentlichen Kern in der Identitätsfindung des postkommunistischen Russland. 1998 war es derselbe Boris Jelzin, mittlerweile Präsident der Russischen Föderation, der in einem Staatsakt die Gebeine der Zarenfamilie in der Peter-und-Paul-Kathedrale in St. Petersburg beisetzen ließ, genau 80 Jahre nach deren Ermordung. Dabei betonte er, dass „viele glorreiche Seiten in der Geschichte des Vaterlands mit dem Namen Romanow verbunden sind.“
In diesem Prozess einer auf Kontinuität und Einheit der russischen Geschichte und Gegenwart ausgerichteten Identitätsfindung spielt die Orthodoxe Kirche eine zentrale Rolle. Für einen Großteil der Bevölkerung repräsentiert sie eine direkte Linie zu dem Russland vor 1917, an dessen Gegebenheiten man kirchlicherseits bemüht war wieder anzuknüpfen. Die Lücke, die das Wegbrechen der kommunistischen Ideologie hinterlassen hatte, konnte sie immerhin zu einem bedeutenden Teil wieder einnehmen und ein geistiges und nationales Gemeinschaftsgefühl vermitteln. In diesem Sinne kann die Heiligsprechung Nikolaus II. und seiner Familie im Jahr 2000 wohl auch als geistliche Überhöhung eines nationalen Symbols verstanden werden. Mit der 2003 an der Stelle des abgerissen Ipatjew-Hauses fertiggestellten „Kathedrale auf dem Blut“ wurde diesem Symbol ein einzigartiger Erinnerungsort geschaffen.
Bereits von außen wird schnell deutlich, wer hier im Mittelpunkt steht. Direkt neben dem Eingang befindet sich ein Denkmal des Zaren, auf den Armen trägt er seinen Sohn Alexej, umgeben vom Rest der Familie. Hinter ihnen ein sie alle überragendes Kreuz. Die Kathedrale ist errichtet im neobyzantinischen Stil, in dem zur Zeit Nikolaus II. die meisten Kirchen erbaut wurden sind. Laut Absicht des Architekten versinnbildlicht sich bereits hierin eine Verbindung der Zeiten und eine Wiedergeburt orthodoxer Traditionen. Das Gebäude selbst teilt sich in einen oberen und einen unteren Teil, die beide jeweils einen eigenen Kirchenraum besitzen. Der obere Teil symbolisiert ein nicht verlöschendes Altarlämpchen, ewig brennend in Erinnerung an die Ereignisse, die sich hier abgespielt haben. In der unteren Kirche, die teilweise auch als Museum genutzt wird, führt ein von Heiligenbildern gesäumter Gang direkt zum Ikonostas, in dem sich an prominenter Stelle auch eine Ikone des Zaren selbst befindet. Der Altar dahinter ist an genau der Stelle aufgestellt, an der Nikolaus II. und seiner Angehörigen ermordet worden sind. Die Kirche gilt heute als einer der bedeutendsten Wallfahrtsorte Russlands. Jedes Jahr findet hier in der Nacht vom 16. zum 17. Juli ein mehrstündiger Gedenkgottesdienst zu Ehren der Zarenfamilie statt, an den sich zudem eine Kreuzesprozession zum 25 km entfernten Ganina Jama anschließt, dem Ort, an dem die Zarenfamilie nach ihrer Ermordung verscharrt worden ist. 2013 haben ca. 8000 Personen an diesem Ereignis teilgenommen.
Die Anknüpfung an vorrevolutionäre Gegebenheiten durch die orthodoxe Kirche schließt in sich allerdings auch noch ein weiteres Moment mit ein – die staatskirchliche Tradition. Damit verbunden sind neben den Bemühungen, die Orthodoxie erneut zur Staatsreligion zu machen, auch jene, dass das Staatswesen wieder auf orthodoxen Grundlagen gründen zu können. Bei der Heiligsprechung Nikolaus II. war es für die Geistlichkeit deshalb wohl auch wichtig zu betonen, dass „der letzte orthodoxe russische Monarch und seine Familie aufrichtig danach strebten, ihr Leben nach den Geboten des Evangeliums zu richten“ und „beseelt waren […] vom aufrichtigen Wunsch, das ‚heilige Russland‘ zu retten“. In diesem Sinne kann das Symbol des Heiligen Zaren auch als ein in die Zukunft ausstrahlendes Ideal interpretiert werden, dass nur durch Zusammenhalt von Staat und Kirche ein nationales Wiedererstarken möglich ist. Einen deutlichen Ausdruck erfuhr dieses Verständnis im Zuge der Zeremonie zur Amtsübernahme Wladimir Putins im Jahr 2000. Der neue Präsident holte sich den Segen des Patriarchen, welcher wiederum versicherte, dass „die russisch-orthodoxe Kirche der weltlichen Macht unabdingbar in den Unternehmen helfen wird, die auf die Wiedergeburt des Heimatlands gerichtet sind.“
Das Ideal vom ‚heiligen Russland‘ – dem Zusammenwirken von starkem Staat und orthodoxer Kirche, die dabei auch eine Vermittlerfunktion zwischen Staat und Gesellschaft einnimmt – sowie dessen Kontinuität und Einheit in Geschichte und Gegenwart fand in einer kürzlich in Moskau zu besichtigenden Ausstellung einen sehr aktuellen Ausdruck. Anlass hierfür bildete der 400. Jahrestag der Thronbesteigung der Romanovs. Etwa 13.000 Besucher täglich verzeichnete die Manege, in der die Ausstellung unter dem Titel „Die Romanovs. Meine Geschichte“ vom 4. bis 26. November 2013 zu besichtigen war. Organisiert und eingerichtet wurde sie allerdings nicht von Historikern, sondern von orthodoxen Mönchen unter Leitung des Archimandrit Tichon, Vorsteher des Moskauer Stretenski-Klosters, und mit Unterstützung des staatlichen Kultusministeriums und der Stadt Moskau. In den einzelnen Abschnitten wird die russische Geschichte dergestalt wiedergegeben, als das dort die Wohltaten der einzelnen Zaren, die zum Wachstum und Aufblühen Russlands beigetragen haben, hervorgehoben werden und in roter Warnschrift auf jene verwiesen wird, die dem Land aus Sicht der Ausstellungsmacher Schaden zufügen und es somit schwächen wollten. Als Aufsichtspersonal in den Räumlichkeiten waren die Mönche selbst eingesetzt, die auch die Fragen der Besucher beantworteten. Der Nikolaus II. gewidmete Raum beschreibt dessen Zeit als den „Höhepunkt in der Entwicklung des Russischen Reiches“. Was darauf folgte war Chaos und Zerstörung. Doch diese Zeiten konnten glücklicherweise überwunden werden und Russland erneut zu seinen Traditionen und somit zu sich selbst zurück finden. Am Ende der Ausstellung – ein Porträt von Präsident Putin.
Matthias Kaufmann, November 2013