Sabantuj ist eines der ältesten Feste der turksprachigen Völker im Wolga-Ural-Gebiet. Es wird jährlich in der Übergangszeit vom Frühling zum Sommer gefeiert, zum Abschluss der Feldarbeiten im Frühjahr. Die einzelnen Elemente des Festes zeugen jedoch von einer komplexen Kulturgeschichte mit ganz verschiedenen Schichten. Ein Ausflug zu einem baschkirischem Sabantuj.
Langsam klappert der kleine Bus hinweg über staubige oder, sofern asphaltiert, schlaglochgesäumte Wege. Alle Sitzplätze sind belegt. Einige Leute stehen im Gang und halten sich an den typisch gelben, an der Decke befestigten Griffen fest, wippen hin und her im Rhythmus des sich weiter durch die Landschaft des Vorurals windenden Busses.
An den Fenstern zieht ein sommerliches Baschkirien vorbei, weite grüne Wiesen und Hügel, die ersten Ausläufer des Gebirges weiter östlich, Rinder am Straßenrand, ein Hirte auf einem Pferd, kleine Dörfer mit neuen Moscheen. Eine alte Frau mit Kopftuch sitzt auf einer Bank vor einem mannshohen blauem Bretterzaun, dahinter ein Holzhaus in derselben Farbe.
Etwas länger als eine halbe Stunde dauert die Fahrt von Ischimbaj, Bezirkshauptstadt der gleichnamigen Region, in das Dorf Asnaevo. In dessen unmittelbarer Nähe findet an diesem Tag das Fest Sabantuj statt, eines der größten und traditionsreichsten Volksfeste der Tataren und Baschkiren. Unser Bus ist deshalb bei weitem nicht das einige Fahrzeug, vielmehr ist die Straße, die zum Dorf führt, mit zahlreichen weiteren Autos belebt.
Vor dem Festplatz, einer speziell dafür hergerichteten, weitläufigen Wiesenfläche am Fuße dicht bewaldeter Hügel, hat sich bereits ein beinahe ebenso weitläufiger Parkplatz gebildet. Jede Region feiert ihren eigenen Sabantuj und so kommen nicht nur aus den umliegenden Dörfern Besucher hier zusammen, sondern aus dem gesamten Gebiet Ischimbaj. Den Bussen und Autos entsteigen ganze Scharen von Menschen und bewegen sich in Richtung Festwiese.
Die Fruchtbarkeit der Natur
Sabantuj (tatarisch) bzw. Habantuj (baschkirisch) ist ein sehr altes Fest und entstand im Kern wohl bereits lange vor der Ausbreitung des Islam in der Region (10-13. Jahrhundert). Im Laufe der Zeit haben sich jedoch verschiedene historische und kulturelle Schichten darum gebildet.
Wörtlich lässt sich die Bezeichnung des Festes übersetzen als „Hochzeit (saban) des Fluges (tuj)“. Gefeiert wird es, zumindest mittlerweile, nach dem Ende der Aussaatzeit im Juni. Vor dem 20. Jahrhundert fand es hingegen unmittelbar vor Beginn der Aussaatzeit (Ende April) statt, die mit dem Fest auch eingeleitet wurde. Zwar gibt es unterschiedliche Theorien über die ursprüngliche Bedeutung von Sabantuj und dem Zweck seiner Durchführung, Einigkeit herrscht jedoch dahingehend, dass dieser Fokus auf die Landwirtschaft – zumal bei den in der Vergangenheit halbnomadisch lebenden Baschkiren – erst später hinzu kam.
Einer Annahme entsprechend wird vermutet, dass Sabantuj seinen Ursprung in Fruchtbarkeitsfesten zu Ehren des anbrechenden Frühlings hat. Nur im Winter in befestigten Dörfern lebend, zogen die Baschkiren im Sommer mit ihren Herden auf die Weiden. Das Fest wurde deshalb unmittelbar vor Auszug auf die Sommerweide begangen, um die Gunst der Natur zu gewinnen, die nötig war, um in den kurzen Sommern alle wesentlichen Produkte zum Überleben im Winter herstellen zu können.
Einen festen Termin für das Fest gab es dabei nicht. Dieser war abhängig von den natürlichen Bedingungen, in erster Linie dem Schmelzen des Schnees. Es soll zudem aus einer ganzen Reihe von Ritualen bestanden haben, die sich über einen bestimmten Zeitraum hingezogen haben. Eingeleitet wurden die Feierlichkeiten mit der Opferung eines Pferdes, dem Wertvollsten, was die nomadischen Baschkiren zu geben hatten. Erst später haben sich diese Vorstellungen dann mit den agrarischen Kulten der Ackerbauern verbunden und die Natur und die sie beherrschenden Wesenheiten galt es dann vor allem im Hinblick auf eine gute Ernte gütig zu stimmen.
Die Sicherheit der Stämme und des Landes
In der Struktur des Sabantuj gibt es daneben aber auch Elemente, die auf weitere Bedeutungen des Festes schließen lassen. So nahmen an ihm etwa nicht nur die Mitglieder der eigenen, sondern immer auch Vertreter anderer Stammesgruppen teil. Das Fest selbst wanderte durch die Dörfer, fand heute hier und morgen dort statt. So besuchte man sich gegenseitig, was stets auch mit der Übergabe von Geschenken einherging. Dahinter stand wohl die Konsolidierung der verschiedenen baschkirischen Stammesgruppen und letztlich auch die Bekräftigung der Sicherheit im Land.
Ein weiteres Element ist verbunden mit der Demonstration der Bereitschaft zur Verteidigung des Landes. Während des Festes absolvierten die jungen Männer unterschiedliche Wettkämpfe, unter anderem im Reiten, Ringen und Bogenschießen, ein Mittel zur Demonstration ihrer Stärke und Geschicklichkeit. Die Feierlichkeiten bekamen für sie somit auch eine militärisch-initiatorische Bedeutung in Vorbereitung zum Schutz der Ländereien. Einer anderen Theorie zufolge war das Fest dementsprechend ursprünglich dem Schutzherren des Landes und der bewohnten Räume gewidmet.
Im Zeichen der Landwirtschaft
Als Erster, der Sabantuj bei den Baschkiren genauer beschrieben hat, und zwar in einer Form, die bereits stark vom Islam und der Ausbreitung der Landwirtschaft geprägt war, gilt der russische Forschungsreisende Ivan Ivanovitsch Lepjochin, der sich im Jahre 1770 im Südural aufhielt. In seinen Aufzeichnungen heißt es:
„alle Dorfeinwohner gehen miteinander in die Metschet [Moschee] zum Gebet, und bitten Gott, daß er das Getraide gerathen lasse; hieraus wird ein allgemeiner Schmauß im Dorfe gehalten, die jungen Leute stellen allerley Lustbarkeiten an, als Ringen, Hupfen mit Eyern, Schaukeln und Tanzen; und wenn das Fest vorbey ist, geht es ans Ackern.“
In den verschiedenen Dörfern besaßen die Feierlichkeiten zwar ihr jeweils eigenes Kolorit, bestimmte feste Bestandteile gab es aber immer: die Sammlung von Produkten und Mitteln auf den einzelnen Höfen zur Durchführung des Festes, die Einrichtung eines Platzes für die Wettkämpfe, Preise und Geschenke für die Gewinner, ein gemeinschaftliches Gebet. Geleitet wurde das Fest von den Aksakalen, den Ältesten, die auch einen Ehrenplatz auf dem Festplatz eingeräumt bekamen. Der Platz war dabei nicht nur Ausstragungsort für Wettkämpfe, sondern auch Ort künstlerischer Darbietungen, für Gesang, Tanz, Musik und Gedichte.
Das 20. Jahrhundert hat erneut Veränderungen in das Fest und seine Organisation getragen. So wurden einige Rituale entfernt, die verbunden gewesen sind mit alten Glaubensvorstellungen und religiösen Motiven. Gefeiert wird es zudem seither nach Beendigung der Aussaatzeit, aber vor der Heuernte, wenn im landwirtschaftlichen Leben eine kleine Pause entsteht. Die Durchführung von Sabantuj erfolgt seitdem auch in Etappen: zuerst in den einzelnen Landwirtschaften, danach in den Regionen und größeren Städten. Letzteres stellt ebenfalls eine Neuerung dar, da es zuvor nur in den Dörfern stattfand.
Großer Sport und kleine Vergnügungen
Zurück in die Gegenwart. Zurück auf den Festplatz beim Dorf Asnaevo. Das Oberhaupt der Gebietsverwaltung Ischimbaj hat den Sabantuj soeben für eröffnet erklärt. Von einer Bühne im Zentrum des Platzes schallt laute Musik über das gesamte Gelände. Ohne Pause werden baschkirische Lieder und Tänze zum Besten gegeben, unterbrochen lediglich von den Ansagen der Moderatoren, die die jeweils folgenden Ensembles ankündigen.
Die größte Attraktion des Tages aber stellen die verschiedenen Wettkämpfe dar, die zeitgleich über den gesamten Platz verteilt stattfinden. Die Wettkämpfe haben sich über die verschiedenen Zeiten am ehesten halten können und bilden heute, losgelöst von jeglicher rituellen Bedeutung, im Prinzip den charakteristischsten Bestandteil des Festes.
Es sind vor allem zwei Wettbewerbe, die die meiste Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Zum einen der Ringkampf „Kuresch“ (Куреш). Sich gegenseitig an den Gürteln des jeweils anderen festhaltend ist es das Ziel, seinen Gegner aus dem Stand auf den Rücken zu werfen. Ein ziemlicher Kraftakt. Die Männer knallen dabei teilweise so heftig auf die Matte, dass es aussieht, als hätten sie sich den Hals verdreht. Kontrolliert wird das Ganze von einem Schiedsrichter, die Ausführungen der Kämpfer werden von einer Jury bewertet.
Der Gewinner des Wettkampfes erhält traditionell ein Schaf. So auch hier. Die Tiere liegen schon an einer Ecke des Ringplatzes bereit. Nicht jeder Besucher des Sabantuj kann einfach an diesem Wettbewerb teilnehmen. Man muss sich vorher dafür anmelden und da Kuresch als offizielle Sportart organisiert ist, sind es vor allem auch Mitglieder entsprechender Vereine, die sich hierfür eingeschrieben haben.
Während die Ringer noch im vollen Gange sind, sammeln sich am anderen Ende des Festplatzes bereits die Zuschauer für den zweiten großen Wettkampf des Tages: dem Pferderennen. Immer mehr Menschen kommen für dieses Schauspiel zusammen, man steht, durch einen Graben von der Rennbahn getrennt, Schulter an Schulter und wartet auf den Startschuss. Ein Moderator auf der anderen Seite soll für zusätzliche Stimmung sorgen.
Über verschiedene Distanzen werden die Wettkämpfe ausgetragen, die Längste davon 4800m, 4 Runden auf der Rennbahn. Der Hauptpreis hier: ein nagelneuer weißer Lada Niva. „Und zum ersten Mal in der Geschichte unseres Wettbewerbes“, wie der Moderator erklärt, „nimmt heute auch eine Frau am Rennen teil.“ Sie schafft es am Ende auf den dritten Platz.
Mit dem Ende des Rennens verstreuen sich die Zuschauer erneut über den Festplatz, bewegen sich zwischen den zahlreichen anderen Spielen und Wettkämpfen hin und her, einen Blick darauf werfend oder selbst daran teilnehmend, denn hier ist das nun möglich. Unter den anfeuernden Rufen der Zuschauer kann man so zum Beispiel eine vertikal aufgestellte Holzstange hinaufklettern, ein ebenfalls traditioneller Wettbewerb.
In früheren Zeiten war an der Spitze ein Preis angebracht, der demjenigen gehörte, der es bis hinauf geschafft hat. Heutzutage gelingt es den Meisten, abgesichert durch Seile, den Mast zu erklimmen. „Molodez! (Klasse!) Nur noch ein bisschen!“, heißen die Umstehenden den Kletterern dabei ein. Bei einem ganz ähnlichem Wettbewerb gilt es, eine diesmal quer im Boden steckende, wankende Holzstange bis zum Ende zu balancieren, ohne herunterzufallen. Daneben kann man aber auch Schach spielen, beim Eierlauf mitmachen oder sich gegenseitig mit Säcken von einer Stange schlagen.
Zu Ehren der Gäste
Etwas abseits vom Treiben auf dem Festplatz, aber dennoch ein wesentlicher Teil der Feierlichkeiten, finden sich eine ganze Reihe von Jurten errichtet. Jede von ihnen präsentiert ein landwirtschaftliches Kollektiv der Region. Auf Schautafeln wird dargestellt, welche Ergebnisse sie im letzten Jahr erzielt haben, was für Veranstaltungen organisiert wurden sind oder was sich sonst so berichtenswertes zugetragen hat. Auch hierbei geht es jedoch nicht ganz ohne Wettbewerb ab. Die von Juroren als Schönste bewertete Jurte erhält am Ende ebenfalls einen Preis.
In den Jurten werden die Mitglieder der eigenen Wirtschaft, aber auch Gäste verpflegt. Die Tische sind reichlich mit Essen gedeckt, es gibt Tee aus dem Samowar oder hausgemachten Kumys, das traditionelle baschkirische Getränk aus vergorener Pferdemilch. Auch wir werden zu Tisch gebeten. „Gäste aus Deutschland“, ruft der Hausherr den bereits in der Jurte Sitzenden zu. Uns wird Platz gemacht, Plasteteller werden verteilt und die Aufforderung ausgesprochen, nicht schüchtern zu sein und sich zu bedienen. „Bik sur rechmet – herzlichen Dank“ können wir ihnen immerhin auf Baschkirisch antworten, was für große Erheiterung sorgt.
Als wir die Jurte nach einiger Zeit wieder verlassen, nähert sich Sabantuj bereits seinem Ende. Knappe vier Stunden hat das Fest gedauert. Nun beginnt der inoffizielle Teil. In den Dörfern besuchen sich Nachbarn und Verwandte gegenseitig, gratulieren sich zum Fest, trinken Tee und Selbstgebrannten und essen gemeinsam. Auch wir wurden eingeladen auf einen Tee im Dorf Asnaevo vorbeizukommen. Es bleibt natürlich nicht nur beim Tee. Auch im Haus unserer Gastgeber ist der Tisch bei unserer Ankunft bereits brechend voll gestellt mit verschiedenen Gerichten und Getränken. Gastfreundschaft – auch das traditionell ein wichtiger Bestandteil des Sabantuj.
Matthias Kaufmann, Juli 2014