Der gesamte Austausch hetzt durch die unterirdischen Gänge der Moskauer Metro: man stelle sich 13 aufgeregte Deutsche vor, die (größtenteils) zum ersten Mal in ihrem Leben mit einer U-Bahn im Moskauer Format konfrontiert werden. Dazu 13 noch aufgeregtere Russen, die quasi mit Überquerung der Landesgrenze die Verantwortung für den Austausch übernommen hatten und sich plötzlich als Reiseführer betätigen müssen. Die ganze Gruppe kämpft mit schier unglaublichen Gepäckbergen. Schließlich bringen die Russen knappe vier Wochen Deutschlandurlaub heim, die Deutschen wiederum haben sich für fast fünf Wochen Überleben in Russland ausgerüstet
Plötzlich ergreift – zum großen Entsetzen einer deutschen Teilnehmerin – ein Unbekannter wortlos ihre Reisetasche. Er hält mit der Gruppe Schritt, trägt die Tasche die Gänge entlang, Treppen hoch und runter, setzt sie schließlich am Bahnsteig ab und verschwindet mit einem Lächeln in der Masse.
Nach dem ersten Schock wird klar, dass wir eine Szene erlebt haben, die sich so in Deutschland nie abspielen, oder aber – wenn doch – mit der Hinzuziehung der Polizei enden würde.
Wie kommt dieser Mann dazu, unaufgefordert beim Taschentragen zu helfen? Hilfsbereitschaft? Ritterlichkeit? Macho? Und wie reagiert die emanzipierte Frau darauf? Dankbar? Empört, da sie ihre manpower in Frage gestellt sieht? Erleichtert, weil ihr jemand die verdammt schwere Tasche abnimmt?
In unserem Fall überwog schlicht und ergreifend die Erleichterung darüber, dass der nette Unbekannte nicht mit der Tasche durchgebrannt ist.
Eine andere Szene spielte sich noch in Deutschland ab: In Leipzig-Taucha besuchten wir einem Segelflugplatz, wo wir Essen und Trinken und anschließend auch Segelfliegen konnten. Allerdings musste das Fliegen abgebrochen werden, weil ein Gewitter aufzog. Also galt es, alles Mitgebrachte möglichst schnell in Sicherheit zu bringen und in die Autos zu verstauen. So griff ich mir eine Bierbank, um sie zum Transporter zu tragen. Plötzlich baut sich einer der russischen Jungs vor mir auf und versucht, sie mit den Worten „Das ist Männerarbeit!“ meinen Händen zu entwinden. Meinen Vorschlag, sich einfach eine andere der zahlreichen Bänke oder gar einen Tisch zu nehmen, damit die Arbeit schneller gehe, ignoriert er. Ich betrachte mich als in meinem Arbeiterinnenstolz gekränkt, lasse ihm die Bank vor die Füße fallen und sage, dass er seine Männerarbeit doch alleine machen solle.
War das die adäquate Reaktion? Zur Völker- und Geschlechterverständigung hat diese Szene sicher nicht beigetragen. So bleibt mir also die Frage: Wie gehe ich damit um, dass mir Bierbänke, Taschen, Getränkekisten, Einkäufe und Wassereimer mit den Worten „Das ist Männerarbeit!“ aus der Hand genommen werden? Und warum tun „die Russen“ das?
Auf jeden Fall wird dieses Verhalten von Seiten der russischen Frauen erwartet. Ich habe die Austauschteilnehmerinnen nur selten mehr als eine Schultertasche oder vielleicht noch ihr Handgepäck tragen sehen. Selbst in St. Petersburg, als die deutsche Gruppe nur noch von zwei Russinnen begleitet wurde, schafften diese beiden es, dass ihr fünftägiges Petersburg-Gepäck von deutschen Teilnehmern getragen wurde, die schon mit ihrem fünf-Wochen-Russland-Überlebensgepäck plus Souvenirs kämpfen mussten.
Das erfordert natürlich eine Gegenleistung: Das Gegenstück zur Männerarbeit ist die Frauenarbeit. Diese spielt sich in erster Linie in der Küche, am Herdfeuer, also im Haushalt ab und wird mit sehr viel Liebe und Aufwand betrieben.
In Deutschland war mir die „Frauenarbeit“ zum ersten Mal begegnet, als der Abend der russischen Küche stattfand. Zu dieser Gelegenheit stellen sich die russischen Austauschteilnehmerinnen einen Nachmittag in die Küche, um für alle TeilnehmerInnen russische Spezialitäten vorzubereiten und diese mit dem gesamten Austausch in einem großen Fest zu verzehren. Während ich den Russinnen die Wohnheimküche zeigte, in der sie kochen sollten, sprachen sie ab, wer von ihnen wann anwesend sein müsse und wer noch kurz nach Hause zum Duschen und Entspannen verschwinden könne. Ich fragte, wann denn die Jungs auftauchen würden. Die Antwort kam prompt: „Russische Männer kochen nicht.“
In Russland wurden dann besonders während der Paddeltour im Ural sämtliche Austauschteilnehmer mit großer Aufmerksamkeit kulinarisch umsorgt, gefüttert, mit Schnittchen versorgt und mit Süßigkeiten bedacht. Speziell zwischen den russischen Männern und Frauen spielten sich teilweise herzzerreißende Szenen ab: Wollte er noch Tee trinken, gab er – obwohl direkt neben dem Teeeimer sitzend – ihr die Tasse, die sie für ihn auffüllte. Erschallte der Ruf „Essen fassen!“ ging sie los um sich zwei Teller auffüllen zu lassen, diese liebevoll mit Brot, Ketchup und Mayonnaise zu verzieren und sie dann gemeinsam mit ihm leer zu essen. Einmal beobachtete ich sogar, wie sich eine der Russinnen vom warmen Feuer erhob, von irgendjemandem eine Zigarette besorgte, sie – obwohl Nichtraucherin – anzündete, inhalierte, hustete und dann einem der Russen brachte, der wohl nicht hatte aufstehen wollen.
Es gibt also Männer, die Holz hacken, Boote und Banjas bauen, Fahrtenmesser im Gürtel tragen und Autos reparieren, die sich jedoch sich in völlige Abhängigkeit begeben, wenn es darum geht, einen Tee einzugießen, ein Essen zu kochen oder Gemüse klein zu schneiden. Umgekehrt geben sich Frauen, die eine improvisierte Waldküche für 30 Personen spielend managen, im wilden Wald Kräuter und Pilze sammeln und im eisigen Fluss Gemüse putzen, genauso hilflos, wenn ein schwerer Wassereimer getragen oder Holz gehackt werden muss.
Irgendwann wurde mir klar, mit welch perfekter Symbiose ich es eigentlich zu tun hatte…
Hannah Tehvocht, November 2006