In Merseburg steht ein wundervolles Architekturdenkmal: meiner Ansicht nach etwas zwischen den Epochen Barock und Gotik. Im Grunde genommen ist das Denkmal der Hof eines großen Hauses, verbunden mit der Arbeitsresidenz der Bischöfe. Auf diesem Hof befindet sich eine große Voliere, in die Zweige und Äste von Bäumen gehängt und gestellt wurden. Nein, hier werden keine Papageien gezüchtet. Hier leben zwei Raben.
Der Rabe wurde schon vor langer Zeit zum Symbol der Stadt, seine Abbildung verziert auch das Wappen Merseburgs. Und alles weil…
…eines scheußlichen Morgens ein Ring verschwand.
In diesen unvordenklichen Zeiten war Deutschland eine unordentliche Ansammlung von Ländern mit starker kirchlicher Macht. Die Kirchendiener beeinflussten den Verlauf der Staatsgeschäfte, daher konnten sie mithilfe ihrer höchsten Erlasse das gesamte deutsche Volk sowohl hinrichten als auch begnadigen lassen. Und so würde der öffentliche Mord an einem Diener des Bischofs nicht die Geschichte der Stadt begründen, gäbe es nicht die Macht zur Durchführung und die menschliche Reue.
Eines scheußlichen Morgens ging der Ring des Bischofs verloren. Der gesamte Hof wurde auf den Kopf gestellt. Die Dienerschaft kroch zu Füssen des mächtigen Hausherrn und fand die Kostbarkeit nicht. Man sollte meinen, was für eine Kleinigkeit! Aber der Bischof, wie üblich, war geizig, hütete das Kircheneigentum wie seinen Augapfel und erlaubte niemandem außer sich selbst die Unterschlagung von Staatseigentum. Unglücklicherweise fiel der Diener dem Bischof in die Hände. Ich weiß nicht, ob man ihn gefoltert hat, darüber schweigt die Legende, aber so oder so richtete man ihn hin.
Die Gerechtigkeit siegte, das gottesfürchtige Volk atmete froh auf, und der Bischof fand seinen ruhigen Schlaf wieder.
An einem schon recht hellen Morgen jedoch erwachte das Kirchenoberhaupt rechtzeitig aus dem Schlaf und entdeckte mit Erstaunen, dass ein hereingeflogener Rabe mit nachtschwarz glänzenden Federn sehr stolz im Fenster seiner Eminenz sitzt und mit dem Ring des Monarchen spielt…
Früher, so nimmt man an, waren die Menschen um einiges ehrlicher und verantwortungsvoller. Der unglücksselige Bischof bereute seinen vorzeitigen Zorn schwer und befahl zum Andenken an den unschuldig Getöteten, den Raben zum Symbol Merseburgs zu machen, und ihn nicht nur auf das Stadtwappen zu platzieren sondern auch in einen nahegelegenen Käfig, auf dass der Hang dieses neugierigen Vogels zum Gold kein weiteres Leben ins Verderben stürze. Seit dem wurde der Käfig bedeutend vergrößert, er hat bereits mehrmals seine Bewohner gewechselt, und noch vor einem Jahr lebte der symbolische Schuldige in absoluter Einsamkeit. Vor kurzem aber wurde ihm aus dem Zoo eine Freundin gebracht. Jetzt warten alle mit Ungeduld auf den ersten Nachkommen.
Die beiden Eheleute leben friedlich und wohlbehalten. Einmal in der Gefangenschaft geboren, sind sie nicht mehr in der Lage in ihrer natürlichen Umwelt zu leben, daher fühlen sie sich, so hoffen wir, gut in dem großen Käfig. Mitunter gibt es auch Streit zwischen den zärtlichen Geliebten, dann fliegen sowohl Federn als auch Apfelstückchen. Ich jedoch konnte beobachten, wie diese zwei großen und starken Vögel einander mit dem Schnabel füttern und etwas tun, was ich als Küssen bezeichnen würde.
So brachte eine menschliche Tragödie dem Raben Glück:)
Elena Shalevich, Mai 2007