Vor einiger Zeit hatte ich die Gelegenheit, einem der wichtigsten Feste im Leben fast jedes Russen und jeder Russin beizuwohnen: einer Hochzeit. Die Bedeutung dieses Tages ist immens und der Ablauf selbst voller interessanter Besonderheiten. Umso mehr, wenn dabei auch tatarische Bräuche ihren Einfluss mit geltend machen.
Ein Gastbeitrag von Theresa Neumann
In Russland nimmt das Heiraten oftmals einen noch ganz anderen Stellenwert ein, als man das aus Deutschland weitestgehend gewöhnt ist. Als Frau wie als Mann einen wirtschaftlich möglichst gut gestellten Partner zu finden und mit ihm eine Familie zu gründen – das scheint fast der Mittelpunkt jedes Strebens zu sein.
Geheiratet wird am besten Anfang 20, denn danach gilt man zumindest als junge Frau schon bald als alte Schachtel oder man vermutet, dass etwas mit einem nicht so stimmt – sonst wäre man schon unter der Haube. Besonders oft sind junge Frauen dem gesellschaftlichen und familiären Druck ausgesetzt, doch möglichst bald einen Partner zu finden.
Frau muss sich tatsächlich auch anstrengen, denn schließlich gibt es viel mehr Frauen als Männer: der Kampf um „gute“ Männer ist groß. Immer wieder finde ich mich in Gesprächen mit Gleichaltrigen wieder, in denen es nur um den „wichtigsten“ Tag im Leben geht: wann es soweit sein wird, welches Kleid und welche Schuhe gekauft werden, welche Wohnung, welches Auto, wie die ganze Hochzeit überhaupt gestaltet werden soll.
Kulturelle und soziale Unterschiede
Ich bin regelmäßig schockiert, wie sehr dieses Heiratsthema im Mittelpunkt steht und meine Gegenüber wiederum darüber, dass es für die meisten 25-jährigen in Deutschland kein Thema ist und ich selbst mit 25 auch noch nicht verheiratet bin. Manche, vor allem Ältere, können das zum Teil gar nicht fassen und kommen dann mit guten Tipps und reden mir ermunternd zu, dass, wenn ich dann in zwei oder drei Jahren mal wieder in Russland vorbeischaue, ich dann meine kleine Tochter mitbringen soll. Meistens versteht man nicht, dass ich nicht traurig bin, wenn ich in zwei oder drei Jahren noch keine kleine Tochter habe oder verheiratet bin und dass das auch nicht mein Lebensziel Nummer eins ist.
Fairerweise muss ich aber sagen, dass es genügend junge Menschen gibt, die inzwischen aus den strengen Regeln ausbrechen wollen. Nur ist das nicht einfach. Gerade, weil Heirat und Familie einfach eine finanzielle Absicherung für die Zukunft sind. In Deutschland ist die staatliche Unterstützung vergleichsweise groß, wenn man z.B. arbeitslos wird. Hier nicht. Bei uns heiratet man eher selten nur aus rein wirtschaftlichen Gründen oder weil das Leben dann einfacher werden würde. Hier hingegen sind wirtschaftliche Gründe nicht selten ausschlaggebend und zu zweit lässt es sich tatsächlich einfacher leben. Nun gut, jetzt hatte ich also die Möglichkeit diesen wichtigen Tag mitzuerleben.
Eine tatarisch-russische Hochzeitsgesellschaft
Zusammen mit meiner guten Freundin Julia – sie hatte mich eingeladen und ihre Eltern sind die besten Freunde der Eltern des Bräutigams – bin ich nach Tujmasy gefahren, etwa 2 Autostunden nordwestlich von Ufa, wo die Hochzeit stattfinden wird. Die Stadt befindet sich unweit der Grenze zur Republik Tatarstan, die Gegend ist daher vor allem auch tatarisch geprägt. Während Julia und ich am Tag der anstehenden Hochzeit noch ausschlafen, sind Julias Eltern schon früh auf, um noch allerlei zu erledigen. Alle nahen Freunde und Verwandten helfen bei der Hochzeit tatkräftig mit.
Gegen Mittag machen auch wir uns schließlich auf zur Wohnung der Braut. An der Eingangstür des Plattenbaus hängen kitschige Plakate, die darauf hinweisen, dass hier eine Braut wohnt. In der Wohnung wuseln viele Frauen durcheinander und machen sich schick. Das Wohnzimmer ist frisch „euro“- renoviert (russ. Evroremont – Renovierung nach scheinbar europäischem Vorbild, für meinen Geschmack meist kühl und nicht besonders gemütlich) und für die Hochzeit hergerichtet. Alles ist in Grün, es gibt ein Sofa, ein kleinen Tisch und ein kitschiges Bild hängt an der Wand. Sonst gibt es nichts. Keine Bücher oder persönliches Dinge.
Im Grünen steht die Braut. Etwas müde lächelt sie in die Kamera des Fotografen, der jedes Detail aus x Perspektiven festhält. Ihre Brautjungfer zerrt am Korsett, während ihr kleiner Sohn aus erster Ehe weinend um Aufmerksamkeit bettelt. Aber heute geht es nur um die Braut und die Brautjungfern schicken den Jungen zum Spielen weg. Der Kollege des Fotografen nimmt alles auf Video auf. Plötzlich rufen alle: „ Sie kommen, sie kommen“ und meinen damit den Bräutigam mit seinen Junggesellen.
Die Braut wird „freigekauft“
Der Bräutigam kann seine Angetraute jedoch nicht einfach so abholen und zum Altar führen, sondern muss sie zunächst einmal „freikaufen“ (russ. выкуп — vykup, der Freikauf). Dafür haben die Brautjungfern einige Aufgaben vorbereitet. Unten am Eingang müssen die Männer, bzw. der Bräutigam die erste davon lösen. Er bekommt eine aus Papier gebastelte Blume, auf jedem Blütenblatt steht ein Wort oder ein Datum, welches in irgendeiner Weise mit seiner Braut verbunden ist (z.B. wann sie sich kennengelernt haben). Weiß er die Lösung nicht, so müssen die Junggesellen den Brautjungfern Geld zahlen.
Alles geht ziemlich laut und mit viel Gelächter zu und die Männer grölen und probieren uns Frauen aus dem Weg zu drängen. Aber wir sind stark und versperren immer wieder den Weg nach oben. Zuerst verstehe ich es nicht richtig und denke, die Männer sind irgendwie böse und aggressiv, aber dann wird mir erklärt, dass das alles ein Spiel ist – je lauter desto besser.
Als nächstes müssen die Männer tanzen und singen, sowie den Schlüssel zur Wohnung in der richtigen Tasse finden, indem deren Inhalt (Milch) ausgetrunken wird. Dann bekommt der Bräutigam einen mit Streichhölzern gespickten Apfel und muss für jedes Streichholz einen Kosenamen für seine Braut finden. Da er aber schon nach dem 5. Streichholz ins Stocken kommt, helfen die anderen mit.
Die letzte Aufgabe besteht darin, anhand der bunten Bänder, die sich an den Türen zu den Zimmern in der Wohnung befinden, herauszufinden, in welchem Zimmer die Braut sitzt. Hätte er nur mal besser aufgepasst, als ihm seine Liebste von ihrer Lieblingsfarbe erzählt hat. So rät er zweimal falsch: erst bekommt er die Oma, dann den kleinen Sohn und am Ende auch die Braut.
Ich bin beeindruckt von den vielen Bräuchen, aber Julia meint, dass das, im Vergleich zu anderen Hochzeiten, bisher nur eine Light-Variante war. Mit einer kleinen Verschnaufpause geht es dann zum Standesamt (закс– zaks).
Die Ehe wird geschlossen
Das Standesamt ist ein rosa bemalter Anbau an einem grauen Hausblock. Davor steht ein Mann mit weißen Tauben und wartet auf Kunden, die sich mit ihnen fotografieren lassen wollen. Im Standesamt kommen alle zusammen. Im Vorraum mischen sich die Gäste von mehreren Hochzeiten, die hier im Halbstundentakt gefeiert werden. Die Damen mit Föhnfrisuren und engen Kostümen, die Männer im Anzug. Jeder bringt riesige, in buntes, durchsichtiges Plastik gewickelte Blumensträuße mit. Dass durch diese Massenhochzeitsabfertigung das Gefühl für die Besonderheit des Tages ziemlich verloren geht, scheint niemand zu stören.
Wir bekommen den Befehl uns im Spalier aufzustellen. Dann kommen auch schon Braut und Bräutigam. Bevor es in die heiligen Hallen des Standesamtes geht, machen sie vor einer schlanken, blonden Dame im blauen Kleid Halt. Sie sagt, dass sie sich freut, dass wir hier alle versammelt sind und bevor es losgeht, müssen die beiden aus einer Schüssel mit Weizenkörnern, die sie in der Hand hält, ihre Ringe herausfischen. Als sie diese gefunden haben, dürfen sie sie auf ein kleines Tablett legen, welches die Tochter der Dame ihnen entgegen hält. Und dann geht es los. Wir ziehen ein.
In einer Ecke spielen auf leicht verstimmten Instrumenten zwei Musikerinnen den Hochzeitsmarsch. Alles ist in rosa und weiß gehalten. Wir bilden einen Kreis um das Brautpaar, das vor dem Standesamtaltar wie vor einem Gericht steht. Ein paar Worte werden gesprochen, zur Besonderheit des Tages, eine schöne Rede gehalten, Tränen fließen, Trauzeugen und Eltern treten vor, Ringe werden übergeben, es wird unterschrieben und nach knapp 10 Minuten ziehen wir mit musikalischer Begleitung ins Nebenzimmer.
Hier werden die obligatorischen Fotos gemacht: Brautpaar mit Eltern, mit ganzer Familie, mit Trauzeugen, mit engen Freunden und mit allen. Als das Brautpaar das Standesamt verlässt, werfen wir Rosenblätter und Reis, es wird mit Champagner angestoßen und Pralinen verteilt. Schnell verschwinden alle in den Autos, denn es bläst ein eisiger Wind. Jetzt geht es zum Hauptteil der Hochzeit: dem Bankett und der Feier – ich bin gespannt.
Ein rauschendes Hochzeitsfest
Für den Hauptteil der Hochzeit wird ein großer, niedriger, weiß gefliester Raum gemietet. Dort stehen bunt geschmückte und reichlich gedeckte Tische. Man wartet auf den Tamada (Тамада) – den Moderator der Hochzeit. Ohne ihn, der für ein buntes Programm mit Musik, Tanz und verschiedenen Aufgaben sorgt, würde totales Chaos ausbrechen, meinte Julia. Als er kommt, nehmen alle Platz. Ich sitze zusammen mit den Kindern und Unverheirateten.
Der Moderator trägt eine Sonnenbrille und schlägt zur Begrüßung sein erstes Lied an. Die Musik läuft ohrenbetäubend laut über die Anlage ab, er singt bekannte russische und tatarische Popsongs dazu. Es ist so laut, dass man sein eigenes Wort nicht versteht und so isst und trinkt einfach jeder. Nach jedem Lied wird Wodka eingeschenkt und auf das Brautpaar getrunken. Nachdem die Gläser abgesetzt sind, fangen alle wild an „Gorka, Gorka“ zu rufen, was eine Aufforderung an das Brautpaar ist, sich zu küssen.
Zwischen den Gesangseinlagen und diversen Spielen gibt es Tanzpausen. Dann wird das Licht gedimmt, Musik abgespielt und Groß und Klein strömt auf die Tanzfläche. Am wildesten tanzen die Freunde der Eltern des Brautpaares. Das sind sind 5 Paare, die sich seit über 30 Jahren kennen und bis heute eine sehr herzliche Freundschaft pflegen. Auch wenn sie heute spießige Kostüme tragen, ist doch der junge Geist immer noch zu spüren.
Ein Mann aus dieser Gruppe, ein Lehrer für Geschichte und früher auch Deutsch, fordert jede Frau zum tanzen auf. Er kann nicht wirklich tanzen, aber sich total wild und komisch bewegen und dazu die Frau in alle Richtungen herumschleudern. Es ist etwas skurril, aber macht einen Heidenspaß. Trotzdem bin ich froh, als ich von einem zweiten Herrn aufgefordert werde, der etwas ruhiger tanzt.
Ich bin begeistert, wie ungeniert alle herumhüpfen. Dazu trägt verständlicherweise auch der Wodka bei. Nach ungefähr immer 15 Minuten ist die Tanzpause vorbei, das Licht geht wieder an: alle setzen sich, essen weiter, nächster Gang, nächstes ohrenbetäubendes Lied, nächster Wodka, nächstes Gorka Gorka.
Gegen Ende des Abends setzen sich andere Gäste auf die Plätze der ersten Brautjungfrau und des ersten Junggesellen. Das ist auch ein fester Brauch. Um ihre Plätze wieder zu erhalten, müssen die Beiden jetzt verschiedene Aufgaben lösen. Die Brautjungfer muss z.B. eine Mandarine von der einen zur anderen Seite durch die Hose des Junggesellen führen. Er muss ein Saftglas Wodka exen. Alle halten etwas den Atem an, denn das ist schon sehr viel, zumal der Junggeselle schon sehr betrunken ist. Aber danach gibt es den nächsten Gang und er bekommt wieder etwas in den Magen und gut ist.
Dann gibt es noch weitere Spiele für alle. Z.B. eine Art Reise nach Jerusalem, außer das die Stühle durch Männer ersetzt werden, auf deren Arme die Frauen springen müssen, sobald die Musik aus ist. Etwas schlüpfrig und der ein oder andere Rock wird ausversehen gelüftet, aber da alle schon recht heiter sind, ist es sehr lustig.
In jedem Block stellen sich außerdem verschiedene Familien und Gruppen vor dem Brautpaar auf und geben ihre Wünsche ab. Die Meisten wiederholen sich, aber einige halten richtig schöne, ergreifende und witzige Reden. Auch ich mit meinem Russisch wünsche den beiden alles Gute.
Kurz vor zwölf ist die Fete dann vorbei. Alle strömen raus auf die Straße in den Schnee und schauen sich das Feuerwerk zum Schluss an. Dann zerteilt sich die Gesellschaft. Die Braut sieht sehr müde aus, einige sind sehr betrunken. Die, die noch können, gehen irgendwo anders weiter feiern. Wir fahren in einen neu eröffneten Klub. Leider will keiner Tanzen, stattdessen singen wir noch Karaoke bis 4 Uhr morgens. Als wir nach Hause kommen sind wir die ersten. Die Eltern und deren Clique sind noch unterwegs. Molodez (super), würde man hier sagen. 30 Jahre älter als wir und trotzdem noch länger unterwegs!
Auch einer der teuersten Tage im Leben
Am nächsten Tag geht die Hochzeit im kleinen Kreise noch weiter, aber wir schlafen aus und fahren dann zurück nach Ufa. Julia zählt mir nochmal auf, was so eine Hochzeit eigentlich alles kostet und ich bin schockiert, wie weit die Kosten der Hochzeit über das hinausschießen, was die Leute hier üblicherweise verdienen! Das durchschnittliche Einkommen ist in Städten wie Tujmasy ist sehr gering. 200 Euro, knapp 20.000 Rubel im Monat sind da schon gut.
Es fängt mit der Renovierung der Wohnung an, denn die soll ja top aussehen, wenn die Gäste kommen – auch neue Möbel werden dafür gekauft. Dann Brautkleid plus nötige Accessoires im Wert von mindestens 20.000 Rubel. Der Fotograf, neben dem Paar die wichtigste Person auf der Hochzeit, da er alles akribisch für die Ewigkeit festhält, kostet mindestens 5000 Rubel, wenn man etwas Qualität haben will auch 20.000 Rubel.
Hinzu kommen schließlich noch ein Auto für das Brautpaar, das Bankett, der Saal, der Tamada. Die Liste ist damit aber noch nicht zu Ende. Aber da wahrscheinlich selten jemand hier soviel Geld hat, wird eben nur ein weiterer Kredit aufgenommen – ein weiteres „Hochzeitsgeschenk“.
Ich bin froh, mich mit diesen Dingen erst mal nicht beschäftigen zu müssen und einfach noch ein bisschen Studentin ohne Ehemann und Kind sein zu können. Die ausgelassene Hochzeit allerdings, die hat mir gefallen.
Theresa Neumann, Juni 2014