Eng aneinander gedrängt befinden wir uns im Zug – stehend, hockend, sitzend, Hauptsache im Zug. Immer mehr Leute zwängen sich in den einzigen Wagon, welcher zum Ziel führt, gegen Ende sogar durchs Fenster. Es ist der 1. Mai und die Wander- und Zeltsaison beginnt. Unser Ziel ist der Aygir, ein Berg, auf dem wir zum ersten Mal, und viele andere junge Leute traditionell die Zeltsaison einläuten wollen. Während des Aufstieges zur Zeltstelle sehen wir die letzten Schneeflecken, bemerken jedoch noch nicht die Kälte, verstehen noch nicht, wofür Balsam und Wodka gekauft wurden. Erahnen nur die Schönheit, welche uns am Ziel erwartet.
Als wir die Spitze des Berges erreichen, treffen wir bereits auf mehrere Gruppen junger Menschen, welche bereits vor uns angekommen sind. Mehrer Feuerstellen, um die sich die Zelt reihen, sind errichtet. Die Gruppenkonstellationen sind für uns jedoch noch undurchschaubar. Von einer Kochstelle zu nächsten bewegen wir uns, essen, reden, singen. Scheinbar kennt sich jeder von den ca. 40 Leuten, auch wenn man aus verschiedenen Städten zu unterschiedlicher Zeit hierher gelangt ist.
Ein erster Höhepunkt ereignet sich für uns, als wir auf einem Felsvorsprung, einer Art Balkon, zum ersten Mal vom höchsten Punkt des Berges die Landschaft, in welcher wir uns befinden, betrachten. Gitarrenklänge begleiten diesen Moment des Erkennens der Schönheit des Aygirs und der sich um ihn befindenden Landschaft. Decken, Schlafsäcke und ein unaufhörlich kreisender Becher wärmen, während wir gemeinsam der Natur ganz nahe sind. Später kochen wir zusammen am Feuer, welches als Koch-, Wärme- und Treffpunkt dient. Den gesamten Abend und die Nacht sitzen wir, wieder eng beieinander, am Feuer mit Gitarre, und singen. Gitarre und Becher wandern von Person zu Person, es ist der 1. Mai.
Der darauf folgende Tag verläuft härter und kälter. Schneeflocken statt Sonne, und das Maximum von wärmender Kleidung kommt zum Einsatz, wird getragen, um die Kälte zu ertragen. Ein kalter Wind bewegt sich durch das Lager, lässt unser Plateau ein wenig trostlos erscheinen, nur vereinzelte Gitarrenklänge sind zu vernehmen. Mit dem anbrechenden Abend steigt die Stimmung jedoch wieder, der Becher hat zwar aufgehört zu kreisen, doch alle sitzen zusammen, im Zelt wäre es schließlich auch viel zu kalt. Und als das Feuer, es ist bereits mitten in der Nacht, hoch und warm pulsiert, wärmt, Licht und Farben zaubert, Schneeflocken im dunklen Himmeln auftauchen, auf uns niederrieseln, erscheint es mir wie ein Traum, hier zu sein, in den Bergen, wo alle so nah beieinander sind – die Menschen, die Natur, die Gedanken.
Sehr früh wache ich auf am 3. Mai, die Sonne scheint und ich tapse über den noch weißen Boden, bin glücklich. Alles ist noch ganz still. Zurück im Zelt zittert es überall, es erscheint absurd und doch lasse ich mich fallen in diese Absurdität und genieße die letzten ruhigen Momente auf dem Aygir. Ein stilles Frühstück folgt. Müde und sehnsuchtsvoll werden die Sachen zusammengepackt, der Abstieg beginnt, ein letztes Feuer an der Haltestelle und erst als der Zug auftaucht, diesmal mit zahlreichen Wagons kehrt die Euphorie zurück, welche bis zum Eintreffen des Zuges in Ufa anhält. Es war der Beginn des Monats Mai.
Julia Glathe, Mai 2008