Der Frühling hat begonnen. Ich habe es daran gemerkt, dass mein Freund und Kollege Azamat heute ohne Mütze zum Mittagessen gegangen ist. Dabei trägt er sonst selbst bei Temperaturen über dem Gefrierpunkt noch Handschuhe. Wenn ich im Herbst noch die letzten Oktobersonnenstrahlen genieße, hat er bereits den Rollkragenpullover übergestreift. Ich habe ihn mal gefragt, wie er daheim „in Sibirien“ die Winter überstanden hat. Darauf hat er mir zwar entrüstet geantwortet, dass Ufa westlich des Urals, also keinesfalls in Sibirien liegt, aber eine richtige Antwort hatte er auch nicht.
Dabei ist es in Ufa im Winter wirklich kalt. Temperaturen von 15 bis 20 Grad unter Null sind normal. Spitzenwerte von unter –30 Grad Celsius sind im Januar und Februar auch keine Seltenheit. Mein „persönlicher Rekord“ waren –35 °C an einem schönen Januarmorgen im Jahr 1993. Da möchte man am liebsten gar nicht vor die Tür gehen. Auch wenn die Kälte natürlich sehr trocken ist und der Schnee eine isolierende Wirkung für die Füße abgibt, so kann ein längerer Aufenthalt im Freien trotzdem unangenehm werden. Wer schon mal bei minus 20 Grad eine halbe Stunde auf den Bus gewartet hat, weiß, wovon ich spreche. Am schnellsten frieren ja immer die Füße. Deshalb sind zwei Paar Socken, davon eines am besten aus Wolle, dringend zu empfehlen. Wer nicht so sehr auf modisches Schuhwerk achtet, dem seien Walenki empfohlen. Die russischen Filzstiefel sehen zwar unmöglich aus, halten aber definitiv warm. Funktionieren allerdings nur bei trockenem Wetter. Sobald es anfängt zu tauen und Gefahr besteht, dass sie nass werden, kann man sie nicht mehr tragen.
Außerdem sollte man immer gut essen. Der Körper verbraucht einfach mal mehr Energie bei diesen Temperaturen. Nie mit leerem Bauch aus dem Haus gehen! Am besten früh schon eine Portion warmen Buchweizenbrei essen. Wer’s kann.
Warum frieren aber nun die Russen im deutschen Winter? Obwohl sie doch all diese „Überlebenskünste“ seit frühester Kindheit trainiert haben? Dabei ist es nicht nur mein Freund Azamat. ALLE Russen, Tataren, Baschkiren und sonstigen Russländer, die ich bisher getroffen habe, jammern, dass es bei uns so kalt wäre. Sicherlich ist die Kälte so hässlich feucht, bläst der Wind so unangenehm kräftig und ist der Asphalt ohne Schnee noch viel kälter. Und selbst wenn der deutsche Jugendliche bei Frost noch ohne Mütze und mit offener Jacke herum läuft, sind meine russischen Freunde immer schön dick eingemummelt. Trotzdem frieren sie!
Bis vor kurzem dachte ich, dass die russische Fähigkeit Kälte zu ertragen, erst bei einem längeren Aufenthalt in Deutschland verschwindet. Sie sozusagen hier verweichlichen. Aber seitdem unsere Redakteurin Dilara zu ihrem Winterurlaub nach Ufa aufgebrochen ist, mache ich mir wirklich Sorgen. Nach nur 4 Monaten in Deutschland war ihre erste Meldung: „Bin gut angekommen. Hier ist es so kalt!“ Dabei waren es nur die üblichen 20 Grad Frost.
Falls es also Ostern nochmals kühler werden sollte und ihr jemanden mit Mütze, Schal und Handschuhen auf der Straße seht, wünscht ihm doch einfach mal auf Russisch ein frohes Osterfest – „S Pas’choj!“. Vielleicht ist es ja mein Freund Azamat …
Ralf Steinhausen, 21.03.0