Die Pervaja Sobornaja Metschet ist die älteste Moschee Ufas und war zu Sowjetzeiten die einzig aktive der Stadt. Bis heute ist sie die „Hausmoschee“ der Zentralen Geistlichen Verwaltung der Muslime Russlands, die am 22. Oktober 2013 ihr 225-jähriges Gründungsjubiläum feierte. Beide Einrichtungen spiegeln auf besondere Weise die wechselvolle Geschichte, zumindest der letzten 200 Jahre, und die teilweise normalisierte, teilweise aber konfliktbeladene Gegenwart des Islam in Russland wider.

Im Jahre 1773 verabschiedete die Zarin Katharina II. einen als „Toleranzedikt“ bezeichneten Erlass, der, nicht zuletzt auch als Reaktion auf die während des 18. Jahrhunderts in Baschkirien häufig aufflammenden Unruhen und Aufstände, eine pragmatischere, in erster Linie an der Befriedung der Region interessierte Politik einleitete und eine Zäsur in der Haltung gegenüber den Muslimen des Reiches bedeutete. „Mit dem Gesetz Katharinas änderte sich der Umgang zum Islam und zu den Muslimen entscheidend“, kommentiert Artur Abdurachman Bikmurzin, den ich in der Pervaja Sobornaja Metschet treffe. Er ist Korrespondent der Zeitung „Magljumat al’ Bulgar“, dem publizistischen Organ der Zentralen geistlichen Verwaltung der Muslime Russlands. „Der Islam und seine Institutionen“, erklärt er, „wurden mit dem Erlass Katharinas offiziell wieder geduldet. Es konnten von nun an auch wieder Moscheen errichtet werden.“

Talgat Tadschuddin (rechts) / Foto: ZDUM

Parallel dazu kam es allmählich zum  Aufbau einer besonderen Verwaltungsstruktur: 1788 wurde die sogenannte „Orenburger Geistliche Versammlung“ gegründet, die, trotz des Namens, ihren Sitz in Ufa hatte und in deren Aufgabenbereich ab sofort die Organisation der muslimischen Gemeinden des Reiches lag. Der Vorsitz und damit die Position eines geistlichen Oberhaupts der russländischen Muslime wurde einem von zarischen Beamten ernannten Mufti übertragen. So entstand eine Art „Amtskirche“, wie sie für den Islam eher untypisch ist und die nicht zuletzt auch die staatliche Kontrolle über die religiösen Würdenträgern gewährleisten sollte. Nach mehreren Umbennungen und Umstrukturierungen zwischen 1918 und 1948, sowie erneut nach dem Zerfall der Sowjetunion, besteht diese Institution unter der Bezeichnung „Zentrale Geistliche Verwaltung der Muslime Russlands“ (ZDUM) bis heute fort. Ihr Vorsitzender ist Talgat Tadschuddin, Obermufti der Russischen Föderation.

Aufbau und islamische Renaissance

Der erste Mufti der Orenburger Versammlung las das Freitagsgebet noch in seinem eigenem Haus. Erst auf Betreiben seines Nachfolgers, Gabdesallam Gabdrachimov (1765-1840), erfolgte der Bau einer eigenen Moschee für die muslimische Gemeinde der Stadt – der Pervaja Sobornaja Metschet (Erste Versammlungsmoschee). Es war vor allem die kaufmännische Elite, die nach Erlass der Toleranzediktes den Aufbau islamischer Institutionen förderte. Auch die finanziellen Mittel zur Errichtung der ersten Moschee in Ufa bestanden vor allem aus den persönlichen Zuwendungen eines in der Stadt ansässigen Kaufmanns. Als Ort wurde das Gelände der ehemaligen Gouvernementsverwaltung zuf Verfügung gestellt, dass sich an der später so bezeichneten Tukaewa-Straße befand. „Bis heute“, so bemerkt Artur, „wird sie im Volksmund vor allem auch so genannt, die Mosche auf der Tukaewa.“

1830 war der Bau der Pervaja Sobornaja Metschet abgeschlossen, ein steinernes Gebäude mit einem Minarett. Trotz einiger Erweiterungsbauten, die seitdem stattgefunden haben, hat die Moschee bis heute ihre grundlegende Form bewahren können. Auf demselben Gelände entstanden außerdem 1865 das Gebäude der Orenburger Geistlichen Versammlung. Damit war der Grundbestand des bis heute bestehenden Komplexes der Zentralen Geistlichen Versammlung errichtet. 1887 erfolgte eine Erweiterung durch eine islamische Schule, die Usmania-Medrese. Neben den Moscheen waren es vor allem auch an diese angeschlossene Medresen, die nach dem Toleranzedikt neu gegründet wurden. Die Schuldichte islamischer Gemeinden überstieg dabei bald jene der umgebenden russisch-orthodoxen Bevölkerung, auch im Gebiet Ufa.

Die Folge der Islampolitik führte im Laufe des 19. Jahrhunderts so zum Aufblühen islamischer Kultur und Bildung im Wolga-Ural-Gebiet, zu einer „islamischen Renaissance“, wie dieser Prozess in der Geschichtswissenschaft mitunter genannt wird. Charakteristisch hierfür ist auch die Ausbildung einer eigenen regionalen muslimischen Identität. Die eigene Abstammung wurde zunehmend zurückgeführt auf das Reich der Wolgabulgaren (7.-10. Jahrhundert) und deren Islamisierung auf den unmittelbaren Auftrag des Propheten Mohammed. Damit grenzte man sich verstärkt von den übrigen islamischen Staaten und Reichen ab. Diese spezielle Tradition ist bis heute lebendig. „Tataren und Baschkiren“, erklärt Artur, „sind Träger der Religion seit vielen Jahrhunderten – seit ihre Vorfahren, die Wolgabulgaren, noch zu Lebzeiten Mohammeds, der eine Gesandtschaft zu ihnen schickte, den Islam angenommen haben.“ Hierin sieht er den Beginn der Ausbreitung des Islam auf dem Gebiet des heutigen Russland. „Nicht umsonst“, so Artur, „betrachtet Talgat Tadschuddin das heutige Russland hervorgegangen aus zwei Säulen: der heiligen Rus und den rechtgläubigen Bulgaren.“ In diesem Sinne forderte Tadschuddin bereits, den Halbmond in das Staatswappen Russlands aufzunehmen.

Vom Propheten Mohammed, so heißt es jedenfalls, besitzt die Pervaja Sobornaja Metschet auch eine geheiligte Reliquie: einige Haare von dessen Bart. Diese wurden der Überlieferung zufolge von Gesandten des osmanischen Sultans am Ende des 19. Jahrhunderts der Moschee als Geschenk überreicht. Sie haben, davon ist Artur überzeugt, nicht zuletzt auch dabei geholfen, dass die Moschee die Sowjetzeit unbeschadet überstanden hat und „nicht einen einzigen Tag geschlossen hatte.“

Unterdrückung und Überleben

Die antireligiöse Politik der Sowjetunion hatte auch für die islamischen Gemeinden weitreichende Folgen: Moscheen wurden geschlossen oder in Lagerräume, Schulen und Klubs umfunktioniert, noch bestehende hoch besteuert. Gab es 1892 auf dem Gebiet des heutigen Baschkortostan etwa 2500 Moscheen, waren es 1945 insgesamt nur noch 12 „arbeitende Kultstätten“, wie es im Sowjetsprech hieß. Geschlossen wurden auch die den Moscheen meist zugehörigen Bildungseinrichtungen. Auch die Usmania-Medrese der Pervaja Sobornaja Metschet ist davon nicht verschont geblieben, sie wurde 1918 in ein tatarisches Gymnasium umgewandelt. Ihren Höhepunkt erreichten die Repressionen schließlich im Zeitraum von 1928-1938 und nicht zuletzt im Zuge des „Großen Terrors“ (1936-38) unter Stalin. So wurde etwa auch der Imam der Pervaja Sobornaja Metschet 1936 verhaftet und zwei Jahre später erschossen, ebenso wie die gesamte Zusammensetzung der Zentralen Geistlichen Verwaltung, die 1938 unter dem Vorwurf der Verschwörung zerschlagen wurde.

Solche Ausmaße erreichten die Repressionen zwar seitdem nicht wieder, dennoch wurde von offizieller Seite auch in den Jahren nach dem Krieg (während dessen sich die Haltung etwas liberalisiert hatte) versucht, das religiöse Leben der Bevölkerung auf einem möglichst niedrigem Niveau zu halten. Die 1948 verabschiedete neue Satzung der Zentralen Geistlichen Verwaltung hielt diese in völliger Abhängigkeit zur Partei und gewährleistete damit die Kontrolle über den muslimischen Bevölkerungsteil der UdSSR. So wurde der Verwaltung etwa das Recht aberkannt, in den islamischen Gemeinden Medresen zu bauen bzw. generell Bildungsarbeit durchzuführen. Auch Moscheen wurden weiterhin keine neuen errichtet. Gab es in Ufa vor der Revolution insgesamt sechs Moscheen, blieb, nachdem 1960 die Gufran-Moschee abgebrannt war, die Pervaja Sobornaja Metschet bis 1991 die einzige noch funktionierende der Stadt. „Es waren vor allem die Gemeindeältesten, die Aksakale, die in jener Zeit den Glauben aufrecht erhielten,“ erklärt Artur. „Sie unterstützten die Moschee nicht nur materiell, sondern gaben auch ihr Wissen an die nächste Generation weiter. Man versammelte sich in ihren Häusern zum gemeinsamen Gebet, heute bei jenem, morgen bei einem anderen.“ Das religiöse Leben verlief im Grunde unbemerkbar für den Rest der Bevölkerung.

Als 1980 Talgat Tadschuddin in Moskau in das Amt der Vorsitzenden der Zentralen Geistliche Verwaltung eingesetzt wurde, sagte man ihm, dass er wahrscheinlich der letzte Mufti sein werde. Noch immer erhoffte man sich den baldigen Anbruch des Kommunismus als einer Welt ohne Religion. Nach dem Ende der Sowjetunion setzte allerdings eine gegenläufige Entwicklung ein und auch der Islam erfuhr eine starke Wiederbelebung. Allein in Baschkortostan wurden seit 1991 über 200 neue Moscheen gebaut, auch die Medresen als die traditionellen islamischen Bildungsstätten wurden wieder eröffnet. Daneben entstanden bisher zudem insgesamt 7 islamische Universitäten in Russland, eine davon im Bestand der Zentralen Geistlichen Verwaltung in Ufa. An ihr lernen in Vorbereitung für die zukünftige Ausübung eines geistlichen Amtes mehr als 700 Studenten die theologischen Grundlagen des Islam und dessen Geschichte. Die Pervaja Sobornaja Metschet selbst wurde erst vor kurzem von Grund auf restauriert. Anlass hierfür bot das 225jährige-Jubiläum der Zentralen Geistlichen Verwaltung. „Dabei wurde nicht nur die Moschee saniert“, wie Artur bemerkt, „der ganze Komplex wurde und wird erneuert. Neben dem Gebäude der Geistlichen Verwaltung ebenso die daran angeschlossene Druckerei und die Bäckerei. Auch ein Hotel wird zur Zeit gebaut.“

Alte Traditionen und neue Herausforderungen

Foto: ZDUM

Die Jubiläumsveranstaltung für die Geistliche Verwaltung fand am 22. Oktober 2013 im Baschkirischen Nationaltheater in Ufa statt. Neben Delegationen aus zahlreichen Ländern der islamischen Welt und offiziellen Vertretern der Russisch Orthodoxen Kirche, hat auch Präsident Putin daran teilgenommen. Er betonte dabei die Rolle, die der Islam als traditionelle Religion auf dem Gebiet der Russischen Föderation in Geschichte und Gegenwart spielt, bezeichnete ihn als ein „herausragendes Element im kulturellen Code Russlands“. Gleichzeitig warnte er aber vor dessen „Politisierung“ und den „von außen kommenden extremistischen Versuchen zur Spaltung der Gemeinschaft“. Erst am Vortag hatte in Wolgograd eine Selbtsmordattentäterin in einem Bus eine Bombe gezündet. Die Tat wird dem Umfeld islamistischer Gruppen aus Dagestan zugeschrieben.

Die Aufgliederung der islamischen Gemeinschaften in Folge der religiösen Erneuerungen nach dem Zerfall der Sowjetunion führte seit 1991 zur Herausbildung von über 50 eigenständigen Muftiaten (Geistliche Führungen) auf lokaler, regionaler und zum Teil auch ethnischer Ebene. Eine scharfe Konfliktlinie auch zwischen diesen Gemeinden selbst verläuft dabei zwischen den als traditionell wahrgenommenen Formen des Islam auf Russischem Gebiet, die in erster Linie mit nationalem Brauchtum gleichgesetzt werden, und nicht-traditionellen, die als aus dem Ausland kommende Formen des islamischen Fundamentalismus betrachtet werden, wofür sich im innerrussischen Diskurs das Schlagwort der „Wahabiten“ herausgebildet hat. In der Wahrnehmung des größten Teils der russischen Bevölkerung wird hiermit vor allem die Konfliktregion des Nordkaukasus in Verbindung gebracht. Spätestens nach dem Anschlag auf den obersten Mufti Tatarstans im Sommer 2012 in Kasan, dem sein Stellvertreter zum Opfer fiel, werden aber auch in der Wolga-Ural-Region Prozesse politischer Radikalisierung beobachtet. Die Mehrzahl der religiösen Führer des Wolga-Ural-Gebiets, aber auch der Gläubigen Muslime selbst, sieht sich hingegen in der Tradition des sogenannten „rossiskaja islam“ stehend – eines „russischen Islam“, dessen Wurzeln zu den religiösen Erneuerungs- und Reformbewegungen des 19. Jahrhunderts zurückreichen und der sich als offen und modernisierungsfähig betrachtet, sowie eine Verbindung islamischer Werte mit staatsbürgerlicher Loyalität gegenüber Russland anstrebt. Auch der Anschlag in Kasan wurde so als Ausdruck des Konfliktes zwischen traditionellen und nicht-traditionellen Formes des Islam gedeutet.

Foto: ZDUM

In einem persönlichen Treffen mit den obersten religiösen Würdenträgern kurz vor der feierlichen Versammlung zum 225-jährigen Jubiläum in Ufa ließ Präsident Putin die anwesenden Muftis wissen, dass es unumgänglich sei, die „russische islamisch-theologische Schule zu stärken“ und den „traditionellen muslimischen Lebensstil“ zu fördern, als Gegengewicht zu „radikalen Ideologien“. Die Schaffung islamischer Kultur- und Bildungszentren und Klubs für Jungen und Mädchen seien hierfür eine wichtige Voraussetzung für eine, so Putin, „Sozialisation des Islam“. Darüber hinaus forderte er die Muftis dazu auf eine aktivere Rolle bei der sozialen Integration von Migranten zu spielen, die nach Russland kämen: „Viele von ihnen sind eure Glaubensgenossen. Sie sollten eure Stimme hören, eure Anteilnahme spüren; ansonsten werden sie zum Objekt der Propaganda für unterschiedliche fundamentalistische Strukturen.“

Aus historischer Perspektive ist es zumindest nicht ganz uninteressant, dass diese Worte auf der Jubiläumsveranstaltung zur 225-jährigen Gründung der Zentralen Geistlichen Verwaltung gesprochen werden, einer Institution, die ja vor allem auch gegründet wurde, um eine dem Staat gegenüber loyale religiöse Elite zu schaffen und damit zumindest die indirekte Kontrolle über die Gläubigen zu erhöhen. Zwar haben sich seit dem Ende der Sowjetunion neben der Zentralen Geistlichen Verwaltung in Ufa weitere zentrale Verwaltungseinrichtungen herausgebildet, etwa der 1996 gegründete Muftirat in Moskau. Die zum Teil scharfe Konkurrenz, die gerade zwischen diesen beiden Institutionen herrscht, dreht sich nicht nur um die Zuordnung muslimischer Gemeinden unter ihre Verwaltungshoheit, sondern auch um die Nähe zur politischen Macht. Diese Traditionslinie scheint so in der islamischen „Amtskirche“ seit 225 Jahren ungebrochen. Wenige Tage nach den Feierlichkeiten zum Gründungsjubiläum jedenfalls erhielt Talgat Tadschuddin, von Präsident Putin selbst überreicht, den staatlichen Orden „Für die Verdienste gegenüber dem Vaterland“.


Matthias Kaufmann, November 2013