Park Jakutowo in Ufa, ein Mittwoch Abend im Februar. Es sind minus 25 Grad und Gusel, die musikalische Leiterin mit dem getönten Haar, ächzt zur Halbzeit mit beschlagener Brille in den Bibelkreis. Der Plan ist folgender: Von 19 Uhr an wird ein biblisches Thema diskutiert, Ausgangspunkte dafür sind in diesem Frühjahr die zehn Gebote und der lutherische Katechismus. Nach einer knappen Stunde werden die humanistischen Anschauungen einiger emotional argumentierender Teilnehmer mit Luthers juristischer Auslegung der zehn Gebote kollidieren und zurückgenommen werden. Pfarrer Heinrich Minich, wird einen Schlussstrich ziehen, sagen, dass Macht, die auf der Erde ausgeübt wird, immer von Gott gewollt sei und wir nicht das Recht hätten, unsere Eltern, Vorgesetzten oder Politiker in Frage zu stellen, wenn sie nicht nachweislich gegen die Gebote handelten. Denn sie trügen soziale Verantwortung für uns und müssten uns so gut sie es verstünden auch „erziehen“. Fehler und Sünden, die sie begehen, so interpretiert Luther das Gebot „Du sollst Vater und Mutter ehren…“, würden von Gott später selbst gerichtet, dem kleinen Mann mit seiner eingeschränkten Urteilskraft aber stehe dies nicht zu, er müsse im Diesseits gehorchen. (Ist das nicht eigentlich sehr orthodox, denke ich. Die, denen Gott wirtschaftliche und politische Macht gegeben hat, können doch in Russland auch heute ihrem „Erziehungsanspruch“ an das Volk voll gerecht werden. Gemurrt wird freilich, aber nicht öffentlich, sondern nur um den  Küchentisch.) Aber auch ein paar anderen Anwesenden will die These nicht einleuchten, daher lässt der Schlussstrich heute auf sich warten.

 

Viktor und Alicia vor der lutherschen Kirche in Prischib

Gusel bleibt der Diskussion fern, friert im Halbdunkel einer Ecke und schläft am Ende ein. Sie übt mit der Gemeinde normalerweise ab 20 Uhr Lieder, und das wäre gerade heute wichtig, denn am Freitag wird internationaler Gebetstag gefeiert. Jedes Jahr ist dabei ein Land zuständig, Lieder und Gebete für die ganze Welt auszuwählen, in diesem Jahr Paraguay. Schließlich wird es neun Uhr und der musikalische Teil muss entfallen. Gusel tobt, hat sie doch 20 Rubel für die Marschrutka ausgegeben, ist fast erfroren und dann bleiben die paraguayanischen Off-Beats ungeprobt und der Freitag ist zum Scheitern verurteilt. Die anderen entgegnen ihr lachend: „Lass uns dafür beten.“

Lutherische Gemeinden vor dem Aussterben

Es gibt in Baschkortostan mehrere evangelisch-lutherische Kirchen. Die ich erlebt habe, befinden sich in Ufa sowie im ehemals deutschen Dorf  Prischib und in der Kleinstadt Birsk. Sie zeichnen sich – wie wohl alle lutherischen Kirchen in Russland – dadurch aus, dass ihre Mitglieder nichtrussische Minderheiten sind, die irgendwann aus verschiedenen Gründen in den Sog (oder Schub) nach Osten geraten waren. In Ufa und Prischib sind das Russlanddeutsche, in Birsk nördlich von Ufa dagegen Leute aus der Republik Mari-El und in regelmäßigen Abständen Gäste aus Finnland. Eine nicht orthodoxe Kirche in Russland kann sich also nicht an jeden wenden: Baschkiren und Tataren sind, wenn gläubig, natürlich Muslime. Dennoch zählen in Ufa und Birsk auch Tataren zur lutherischen Gemeinde, Herkunft bestimmt also nicht mehr zwangsläufig die Religion, wenngleich beides von manchen  verwechselt zu werden scheint. „Richtige“, also orthodoxe Russen, kommen praktisch nicht auf die Idee, sich in protestantischen Kirchen zu engagieren. Es ist also eine Insel-Clientèle, die hier ihren Glauben lebt, der zudem das Gen der Auswanderung eingebaut zu sein scheint. Das, sowie die Überalterung, stellen die übriggebliebenen lutherischen Gemeinden in Russland vor den Zerfall.

Wenig Akzeptanz zu Sowjet-Zeiten

Als sich im Zarenreich viele neu zugezogene westliche Ausländer im Land befanden, genoss die evangelisch-lutherische Kirche eine Position als Staatskirche minderen Rechts. Mit der Gründung der Sowjetunion wurde dieser Status natürlich abgeschafft. Nachdem Stalin die Macht ergriff, wurden alle Strukturen westlicher Kirchen zerstört, ein Großteil der Pastoren verlor sein Leben. Auch nach 1945 scheint es in der Sowjetunion weitaus weniger Existenzmöglichkeiten, geschweige Akzeptanz, für Kirchen gegeben zu haben, als etwa in der DDR. Einzelne lutherische Gemeinden und Verbindungen zwischen ihnen hat es gegeben, kirchliche Strukturen bis zur Perestroika jedoch nicht.

Lutherische Kirchen sind vom russischen Staat nicht anerkannt

Die evangelisch-lutherische Kirche in Ufa wurde 1910 eingeweiht, wobei die damaligen Besucher der Gottesdienste Deutsche, Letten und Esten waren. Später diente das Gebäude dem Ufaer Werk für Diesellokomotiven-Reparatur, wurde mehrmals umgebaut, bis 2000 als Speicher genutzt und erst dann auf Erlass des baschkirischen Ministerkabinetts der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Ufa zurückgegeben. Seitdem wird am Wiederaufbau der Kirche gearbeitet. Eine schwierige Aufgabe, denn im Unterschied zu den orthodoxen sind westliche Kirchen auch heute nicht vom russischen Staat anerkannt und erhalten keinerlei Unterstützung. Diese kommt allenfalls in Form von Spenden z. B. von Gemeinden in Deutschland. Es gibt aber auch öffentliche Strukturen, die die Kirche, wenn nicht finanzieren, so doch bekannter machen können. Dazu müsste jedoch der Kirchenvorstand professionelles Marketing betreiben, sich permanent bei potentiellen Förderern Gehör verschaffen. Ich denke aber nicht, dass der Pfarrer in erster Linie Geschäftsmann sein sollte. Natürlich muss er für seinen Lebensunterhalt sorgen, denn in Russland bekommt man als Geistlicher einer nicht orthodoxen Kirche keine Kopeke vom Staat. Man tut dies ehrenamtlich. Wenn der Pfarrer aber dann noch für den Erhalt des Kirchgebäudes verantwortlich ist, bleibt wohl für seine Aufgaben in der Gemeinde keine Zeit mehr.

Die lutherische Gemeinde in Prischib

In einer ähnlichen Situation ist Viktor. Er ist Russe, in Petersburg geboren, hat lange im tschetschenischen Grosnyj gelebt und ist nach dem dortigen Krieg nach Ufa gekommen. Vor drei Jahren hat er sich entschieden, nicht mehr mit Frau und Kindern zu leben, sondern auf dem Dorf, um nur Gott zu dienen. Dem Aussehen nach würde ich ihn für einen Kaukasen halten, obwohl auch das nicht stimmt, aber deutsche Herkunft hat er weder von der Familie ererbt, noch im früheren Leben eine besondere Beziehung zum Land der Dichter und Denker gehabt. Dennoch hält Viktor die Gottesdienste in der lutherischen Gemeinde des von Deutschen angelegten Dorfes Prischib 70 km westlich von Ufa.

Findet in der Ufaer Kirche der Gottesdienst einschließlich Liedern und Gebeten auf deutsch und russisch statt, so ist es in Prischib überwiegend deutsch. Man muss dazu sagen, dass die Gemeinde neben Viktor aus vier alten Leuten besteht. Die fünfte, Alicia, ist die Mutter von Heinrich Minich, dem Pfarrer der lutherischen Gemeinde in Ufa. Alcica ist das Rückgrat des Gottesdienstes, da sie ein riesiges Repertoire an Liedern und Gebeten auswendig beherrscht und es unaufgefordert darbietet. Nur ist ihr Kommen aus dem Nachbardorf Novonikolskoje, wo sie allein lebt, davon abhängig, dass sie sonntags von den (natürlich ebenfalls deutschen) Katholiken mitgenommen wird. Die haben einen eigenen Kleinbus, mit dem sie die Leute einsammeln und wieder nach Hause fahren.

In der Woche Hausmeister, sonntags Leiter des Gottesdienstes

Davon kann Viktor natürlich  nur träumen. Wenn schon die Kirche in Ufa nur sehr selten mit einer Spende aus Deutschland bedacht wird, kann man in Prischib nur mit dem wirtschaften, was die Felder und Weiden hervorbringen. Mit der Kollekte (ca. sechs Euro im Monat) kann Viktor nicht die Betriebskosten des Hauses hinter der schweren deutschen Glocke decken, in dem sich der kleine Kirchensaal befindet, und das er selbst bewohnt. Bis vor kurzem hat er acht Stunden am Tag in der Schule als Hausmeister gearbeitet. Dort führte er mich Anfang März herum: Ein gewaltiger Bau, von dem man nicht glaubt, dass es in der näheren Umgebung jemals so viele Schulkinder gegeben hat. Ein Teil davon ist Internat, aber in dieses kommen heute nicht mehr viele von außerhalb. Der eine Flügel der Schule wird gerade „renoviert“. Ich kann aber nur entdecken, dass Bänke, Lampen und anderes aus den Klassenzimmern entfernt wurden und diese offensichtlich nicht wieder einer Verwendung als Schulräume zukommen sollen. Man sieht noch, dass die Schule einst über eine gute Ausstattung verfügte: Filmprojektoren, Schallplattenspieler im Lehrertisch, Steckdosen an jeder Bank in den ehemaligen Physikräumen. Die Bücherschränke sind noch voll, verstauben aber. Viktor schuftete in dem endlosen Gebäude acht Stunden täglich für sehr bescheidenen Lohn. Der 58-Jährige ist zwar ein Stadtkind, wollte aber immer auf die Landwirtschaft umsteigen, um sich von der Schule unabhängig zu machen, denn bisher kann er sich nur am Sonntag mit dem eigentlichen Zweck seines Hierseins beschäftigen.

Als der Schnee einen Monat später so weit geschmolzen ist, dass ich mit dem Fahrrad noch einmal nach Prischib komme, hat Viktor die Schule schneller verlassen müssen, als ihm lieb war. Er scheint aber nicht sehr betrübt darum zu sein, will sich jetzt ganz auf die Schweinezucht einlassen. Von dem direkt an die Kirche angebundenen Schweinestall hatte man ihm aufgrund des Geruches abgeraten, aber als ich zu Besuch war, hatten die Temperaturen noch nicht das Maß erreicht, dass ich den Effekt beurteilen konnte. Siegfried, sein Nachbar, der kaum russisch spricht, hat ihm erklärt, dass Schweine richtig Geld bringen, gern 30 bis 40 Euro pro Stück, wenn man den zahlreichen Nachwuchs nicht lange durchfüttert, sondern zügig verkauft. Ich hoffe sehr, dass er recht damit hat und mehr Glück als mit den drei Ziegen: Als wir am Nachmittag den Stall besichtigen, ist das kleine Zicklein unerwartet verendet, welches am Morgen noch munter herumgesprungen war.

In Prischib spricht man Südwestdeutsch

Noch aber ist die Welt in Ordnung, die alten Deutschen sind sehr gesprächige Leute mit interessanten Lebensgeschichten und man hat sich damit abgefunden, dass die Verwandten im arbeitsfähigen Alter nur im Sommer zu Besuch kommen. Wie hat sich aber das Deutsche so gut halten können, nachdem die schwäbischen Auswanderer 200 Jahre in der Ukraine und, nach in Aussicht gestellten Vergünstigungen Jekaterinas II., 100 Jahre in Baschkortostan gelebt haben? Auch das hat sicherlich mit ihrer Religion zu tun. Im Zarenreich war es nämlich den nichtorthodoxen Kirchen verboten, ihr Glaubensleben in russisch zu praktizieren, sie sollten von den anderen nicht verstanden werden und somit keinen Zulauf erhalten, der orthodoxen Kirche also keine Konkurrenz machen. Wie im Fall Prischib sind in den meisten ländlichen Gebieten, in denen die Deutschen lebten, auch die Entfernungen zum nächsten Dorf größer und die Mobilität geringer, weshalb sich hier der südwestdeutsche Dialekt halten konnte, den die Menschen mitgebracht hatten, und der im heutigen Deutschland kein Äquivalent mehr hat.

Lebendige lutherische Kirche in Birsk

Der lutherischen Gemeinde in Birsk geht es finanziell bedeutend besser. Interessanterweise besteht sie nicht aus Deutschen, sondern aus Mari, einer Volksgruppe, die hauptsächlich in der Republik Mari-El lebt und ihre eigene Sprache mehr zu praktizieren scheint, als die meisten Baschkiren in Baschkortoastan, jedenfalls hört man, dass russisch für viele Fremdsprache ist. Wenngleich auch nach Birsk die Gemeindemitglieder meist umständlich von den umliegenden Dörfern kommen müssen, hat man nicht den Eindruck des bevorstehenden Aussterbens, da das Problem Abwanderung weniger besteht. Die Kirche führt ungefähr jedes zweite Wochenende Jugendveranstaltungen, Seminare für Missionare u.a. durch und scheint daher sehr lebendig zu sein, zumal immer Leute von außerhalb, ein Theologie-Praktikant und oft finnische Gäste dort sind.

Jucha, der Pfarrer, welcher hier die vergangenen zwölf Jahre war, ist selbst Finne und spricht sehr interessantes Russisch. Vorerst ist er mit seiner Frau wieder nach Finnland gereist, jedenfalls für das nächste Jahr. Die Birsker Kirche hat jedoch einen etwas anderen Stil als die deutschen, ich würde ihn einen Hauch charismatisch-lobpreisender und weniger theologisch nennen. Dies natürlich im Rahmen dessen, was man sich unter lutherisch vorstellt. Von den sich völlig „hingebenden“ Freikirchen mit den klaren Botschaften, den Lobpreis-Bands, den Seminaren über den Umgang mit Geld, welche inmitten des Gottesdienstes stattfinden, ist in diesem Artikel nicht die Rede. Aber selbstverständlich gibt es auch sie in Ufa wie überall in Deutschland und der restlichen Welt. Auch Mormonen gibt es in Ufa, die jedoch, so sagte mir ein sehr ehrlicher Amerikaner, der dort zwei Jahre „in the mission“ ist, einen Rückgang des Interesses bei der Bevölkerung feststellen müssen. Die Leute kamen aus Neugier, weil sie glaubten hier Ausländer kennen lernen und englisch praktizieren zu können, weniger aus Glaubensinteresse. Man kann eben überall Paläste bauen, aber ob man damit Menschen fischt, ist eine andere Frage.

Peter Bock, 18.06.07