Jährlich am 1. Mai füllen sich die Straßen russischer Städte mit den Kolonnen der traditionell am Tag der Arbeit stattfindenden Demonstrationen. Auch Novosibirsk ist dabei keine Ausnahme. Allerdings findet hier gleichzeitig noch eine Veranstaltung statt, die dieses Treiben in einem farbenprächtigen Fest des Absurden gekonnt auf die Schippe nimmt.
Auf dem Kalinin-Platz am nördlichen Rand der Innenstadt von Novosibirsk strömen, im Rhythmus der eintreffenden U-Bahnen, immer mehr Menschen zusammen. Es sind vor allem junge Leute, sie tragen bemalte oder beschriebene Schilder und Plakate mit sich oder sind verkleidet und somit selbst sozusagen ein wandelndes Plakat. Es wir immer bunter, enger, lauter und die Stimmung immer ausgelassener. Irgendwo spielt jemand Gitarre.
In dieser dichten Menge herrscht große Bewegung. Man läuft hin und her und schaut sich um, was für Losungen und Sprüche sich die anderen Teilnehmer ausgedacht haben. Denn diese sind der Kern des Ganzen, im Grunde wie bei anderen Versammlungen auch. Der wesentliche Unterschied hier ist allerdings, dass man sich und seine Verlautbarungen alles andere als ernst nimmt. Ganz im Gegenteil ist die “Monstration” (russ. Monstrazija), so die offizielle Bezeichnung, ein Gegenentwurf, eine große Satire auf die traditionellen 1. Mai-Demonstrationen. „Prasdnik vesny i truba“ (Feiertag des Frühlings und des Rohrs) war so etwa in ironischer Anspielung auf die offizielle Bezeichnung des „Prasdnik vesny i truda“ (Feiertag des Frühlings und der Arbeit) auf einem der Plakate zu lesen.
Seit nunmehr 10 Jahren findet die Monstration bereits in Novosibirsk statt. Entstanden ist sie 2004 auf Initiative der Künstlergruppe „CAT“ (Contemporary art terrorism) und als deren Reaktion auf eine als inhaltsleer und ritualisiert empfundene Demonstrationskultur, die durch ständiges Wiederholen alter Phrasen im Grunde nichts neues zu sagen hat und so auch keinen ernsthaften politischen Dialog mit niemandem führt.
Als der Platz die Menge an Menschen längst nicht mehr aufnehmen kann, wird der Beginn des eigentlichen Marsches verkündet. 3,5 Kilometer über die zentrale Verkehrsader hinein in die Innenstadt, zum Leninplatz mitten im Zentrum. Eine aus der Mitte des Zuges heraus unüberblickbare Masse an „Monstranten“ strömt die Straße hinunter. Ein Lautsprecherwagen sorgt für Begleitmusik. Zwischendurch wird immer mal wieder angehalten, die Fotografen aufgefordert ihre Arbeit zu machen oder spontane Losungen skandiert. Die Atmosphäre ist dabei die ganze Zeit buchstäblich euphorisierend – ein unglaublich positives Massenspektakel bis zum Schluss.
In ihrem Selbstverständnis ist die Monstration eine „künstlerische Aktion mit Losungen und Transparenten, welche die Teilnehmer als wesentliches Kommunikationsmittel mit den Zuschauern und als künstlerische Technik verwenden, mit deren Hilfe wir die uns umgebende Wirklichkeit gedanklich verarbeiten.“ Die Monstration trage keinen offenen Protestcharakter und sei keine politische Aktion. Als solche versucht sie die Stadtverwaltung jedoch jedes Jahr aufs Neue einzuordnen, was nicht zuletzt eine deutliche Verschärfung der Auflagen zur Folge hätte. Erst am Vortag zur diesjährigen Monstration musste Loskutov erneut zusichern, dass es sich um eine künstlerische Aktion handelt. In ihrer Selbstbeschreibung bleibt die Monstration deshalb in erster Linie ein Happening, Public-Art und Aktionskunst, bei der das Absurde deutlich im Vordergrund steht.
Die Mehrzahl der Losungen ist auch in diesem Rahmen zu verorten: auf das alltägliche Leben bezogene Scherze, Wort- und Sprachspiele oder auch einfach nur purer Nonsens. Mitunter sind die Sprüche aber vielschichtiger oder doppeldeutiger, als sie zunächst erscheinen. Die Grenze zum politischen bleibt so letztendlich dennoch sehr schmal. „Trudno byt blogom“ (Es ist schwer, ein Blog zu sein) heißt es etwa auf einem der Plakate (in Anlehnung an den letztes Jahr erschienenen Film „Trudno byt bogom“ – Es ist schwer, ein Gott zu sein), was sich auch als Kommentar zu dem Gesetzesentwurf zur schärferen Kontrolle von Blogs im Internet lesen lässt.
Diese Mehrschichtigkeit gilt nicht zuletzt auch für die Hauptlosung, die auf einem großen roten Banner dem Zug an Monstranten vorneweg getragen wird, in der Mitte traditionell gehalten von Loskutov selbst und der novosibirsker Künstlerin Marija Kiseljova an seiner Seite. Als kreative Ideengeberin der Monstration neben Loskutov sollte sie zumindest genannt werden. Die jährlich wechselnde Hauptlosung (2013: „Vperjod v tjomnoe proschloe“ – Vorwärts in die dunkle Vergangenheit) wird bis kurz vor Beginn des eigentlichen Marsches geheim gehalten und erst vor Ort präsentiert.
„Ad nasch“ (Die Hölle ist unser) heißt es in diesem Jahr, was an die in letzter Zeit sehr aktuelle Losung „Krim nasch“ (Die Krim ist unser) erinnert. „Die Monstration ist eine karnevaleske Prozession durch die Stadt, in der wir den Wahnsinn ironisieren, der uns umgibt“, fasst ein äußerst zufrieden aussehender Loskutov diesbezüglich am Abend in einem Interview für den Fernsehsender Doschd noch einmal zusammen – ein ironisches Grinsen auf dem Gesicht und ein Gummihuhn in die Kamera haltend.
Übersetzungen und Erklärungen einiger der Losungen auf den Fotos:
01) in der Mitte: „Nur bei uns! Die neuesten Mittel zum ausfindig machen von Schuldigen.“
rechts: „Ewiger Frühling in einer Einzelzelle.“
02) links unten: „Hier ist nicht der Zirkus.“
03) rechts: „Gehen sie weiter, nicht stehenbleiben. Hier gibt es nichts zu sehen.“
04) „Achtung, das Leben ist wunderbar!“
05) links: „Der Karneval findet nicht statt!“
rechts: „Ausgang“
07) „Nicht verheiratet“
08) links: „so halt“
rechts: „Waka Waka“
09) „Nichtsdestotrotz“
10) „Fleisch wurde vom Fleisch satt, Fleisch wurde vom Spargel satt, Fleisch wurde vom Fisch satt und hat sich mit Wein satt getrunken, und du nicht!“
11) „Hätte das nur jemand fotografiert!“
12) links: „Heiratet nicht!“
rechts: „Lotterie, das ist die Zählung der Optimisten.“
14) „Ich werde Ljoscha bei mir als wohnhaft melden.“
15) in der Mitte, mit Mondgesicht: „Gagarin, ich habe sie geliebt.“
16) oben links: „Das Auge folgt dir.“
oben rechts: hier steht „prodam b ljudej“, wobei der Buchstabe b allerdings sehr klein geschrieben ist. Wenn man ihn übersieht liest man: „Verkaufen Leute“. Wenn man ihn allerdings schnell mitliest klingt es ähnlich wie „prodam bljadej“, was so viel heißt wie „Verkaufen Scheißkerle“
unten: „Was ist, was ist! Was ist, was ist… Was ist, was ist?“
18) „Was wir hier machen? Na denk doch selbst mal logisch nach!“
19) „Die Welt wird sich nicht selbt retten (leider).“
24) in der Mitte: „Mit Geduld und Zeit… das war`s, ich bin müde!“. Abänderung eines russischen Sprichworts, das im Original etwa so viel bedeutet wie „Mit Geduld und Zeit kommt man mählich weit“.
25) oben links: „Kritisiert die Dosen nicht.“ Im russischen heißt Dose ‚banka‘ und hat dieselbe Pluralform wie die Bezeichnung für die Banken (also die Geldinstitute).
oben rechts: „Weg mit Alkohol, weg mit Nikotin, gerettet werden alle durch Betakarotin!“
26) oben links: „Nicht das was angeblich, aber nichts desto trotz!“
oben mitte: „Ich gehe nicht zur Monstation“
27) in der Mitte: „Radieschen ist so ein Früchtchen“ (Rediska – tot eschjo frukt). Der Ausdruck „Rediska – nerochoschij tschelovek“ (Radieschen ist ein schlechter Mensch) stammt aus einem sowjetischem Kultfilm. Das Wort „frukt“ (Frucht) wird im Bezug auf einen Menschen abwertend gebraucht (ähnlich wie im Deutschen der Ausdruck „Früchtchen“. „Tot eschjo frukt“ ist ein feststehende Redewendung, die so viel bedeutet wie – er ist ein komischer Typ.
29) weißes Schild links: „Wir propagieren Heterosexualismus“
Pappschild rechts: „Sprot und Biele“
30) „Die Creme ist unser“
33) im Vordergrund links: „Das Knirschen der spirituellen Klammern“ (duchovnych skrep skrip). Der Ausdruck „duchovnyj skrep“ (die spirutelle Klammer) wurde von Präsident Putin in einer Rede gebraucht, die sich auf die Schaffung einer neuen nationalen Idee bezog.
im Hintergrund links: „Grüße an die trockennasigen Primaten“
Matthias Kaufmann, Mai 2014