– Warum fiel die Berliner Mauer?
– Weil es im Westen Bananen zu
kaufen gab

Privatgespräch

Vor kurzem hatte ich die Gelegenheit, in den Westen Deutschlands zu fahren. Die Reise diente weniger dem Vergnügen als dass sie beruflicher Natur war: ich sollte möglichst ohne Vorurteile, d.h. in höchstem Maße objektiv, die Unterschiede zwischen den Lebenswelten in Ost- und Westdeutschland aufzeigen. Kein Zweifel, die Berliner Mauer mit ihren Zollkontrollpunkten steht schon lange nicht mehr und Vorfälle von Tötungen wegen Fluchtversuchs sind längst in Archiven verschwunden. Dennoch gibt es einen inneren, nicht greifbaren Unterschied zwischen den Menschen der ehemaligen DDR und der BRD, den man auch oder gerade als Ausländer spürt.

Ich bat einige Leute, Deutsche, mir bei folgender Fragestellung zu helfen: „Worin besteht dieser verborgene Unterschied zwischen „Ossis“ und „Wessis“?“

Theater in Essen (Westdeutschland)

Ein Mädchen, das in Westdeutschland geboren ist und seine Kindheit und Jugend dort verbracht hat, betont, dass die Leute im Osten an sich weniger lachen. „Verstehst du, heutzutage arbeiten in Deutschland alle gleich, aber für die gleiche Arbeit bekommt man im Osten und Westen unterschiedliche Löhne. Hier in Halle lebt es sich nur deshalb schwerer, weil es Territorium der ehemaligen DDR ist.“ Ihrer Ansicht nach, lebt es sich im Westen viel leichter, die Leute sind unbeschwerter und lebensfroher, sie lachen mehr, sind besser angezogen – sie bekommen das Geld, was sie verdient haben. Hier (im Westen, a. d. R.) gibt es noch die viel beschworene „deutsche Qualität“, die in allen Waren zu spüren ist. „Kleidung kaufe ich heute immer noch lieber im Westen“, sagt meine Freundin. „Im Osten ist die Herkunft der Sachen manchmal unklar, deswegen bin ich oft unsicher bei meinen Einkäufen hier.“ Und sie hat Recht: Ich selbst kann bestätigen, dass Parfüm aus West-Parfümerien besser, „echter“ riecht, als aus den Ost-Parfümerien. Tatsache.

Doch die beiden „Deutschlande“ unterscheiden sich nicht nur wirtschaftlich: mehr als einmal konnte ich Leute aus dem Westen in Geschäften beobachten, die auf maximale Distanz gingen. Das heißt, wenn du dich ihnen mehr als einen Meter näherst, wird das schon als Einmischung in die Privatsphäre angesehen. In Halle habe ich oft in Schlangen gestanden, die an solche aus Sowjet-Zeiten erinnerten, also ziemlich dicht gedrängte. Dieser eine Punkt kann eine ganze Reihe an philosophischen Gedanken hervorrufen: das Recht auf Privateigentum, die alleinige Sorge um das persönliche Wohlergehen und materielle Vorteile, die Unantastbarkeit des eigenen Lebens – all diese Dinge unterscheidet das Wertesystem der Menschen aus dem Westen von denen aus dem Osten. Der kollektive Gedanke und die kollektive Tat sind fest in den Köpfen der „Ossis“ verankert und deshalb, auch wenn sie weniger lächeln, schließen diese Leute trotzdem engere, festere Freundschaften.

„Früher in der DDR half der Staat jungen Müttern, ihre Kinder kostenlos in die Kita zu bringen“, sagt eine andere Freundin, die selbst einen kleinen Sohn hat. „Jetzt muss ich richtig viel Geld bezahlen, um ihn in den Kindergarten zu schicken. Wir werden auch langsam zu Wessis, die nur an sich denken.“

„Wer im Westen reich ist, verdient immer noch mehr Geld dazu. Langzeitarbeitslose haben es dort umso schwerer, wieder in einen Job zu kommen, denn in der langen Zeit der Arbeitssuche haben sich diese Menschen von der Gesellschaft entfernt. Diesen Punkt unterstreichen Arbeitgeber nicht zuletzt immer wieder“, sagt mein Freund, der in der DDR geboren wurde und jetzt im Westen arbeitet. „Hier ist die ganze Wirtschaft darauf ausgerichtet, höchstmögliche Einnahmen aus jedweder Tätigkeit zu erzielen. Deshalb ist hier der Lebensstandard auch höher. Aber das ist noch nicht der wichtigste Punkt!

Nach dem Fall der Mauer haben wir auf eine integrative Wirtschaft gehofft, in der die positiven Seiten beider Systeme verschmelzen würden, denn die gab es sowohl in der DDR als auch in der BRD zur Genüge. Aber Letztere verschlang Erstere und nun haben wir die gleich BRD nur viel größer. Was wirklich bedauerlich ist, ist die Abschaffung des östlichen Bildungssystems. Nach letzten Zahlen ist das Bildungssystem im heutigen Deutschland fast mit das Schlechteste im Vergleich zu den anderen Industriestaaten. Diese Tatsache ist noch umso bedauerlicher, wenn man in Betracht zieht, dass Finnland unser Bildungssystem (der DDR, a. d. R.) sich auf die Fahnen geschrieben hat. Der Versuch der Regierung, so schnell wie möglich alle Folgen der Teilung unseres Landes vergessen zu machen, endete damit, dass sie sich darauf stürzte, alle positiven Erfahrungen der DDR aus der Geschichte auszulöschen. Mir gefiel es zum Beispiel sehr, wie die Freizeit der jungen Bürger der DDR organisiert war: jede Menge Zirkel und Kreise ließen sie nicht in den Strudel des Bierrauschs hineingeraten. Die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen war gesellschaftlich oder künstlerisch tätig.“

„Aber gerade darin liegt doch das Prinzip der europäischen Demokratie: sich nicht in das persönliche Leben der Menschen einzumischen, egal wie alt sie sind. Jeder ist ein freier Mensch und kann über seine Freizeit verfügen“, erwidere ich.

„Manchmal sollte man ruhig auf die Erwachsenen hören, glaube mir. Wie sieht es denn jetzt aus, wenn du dich umschaust? Jede Menge Halbwüchsiger und Jugendlicher, die auf der Straße Bier trinken, Mädchen, die schon seit ihrer Geburt mit rosafarbenen Haaren herumlaufen – weder die Einen noch die Anderen tun sich damit was Gutes. Das nennt man Dekadenz. Die deutsche Regierung ergreift Maßnahmen und gibt dafür Unsummen von Geld aus, z.B. für Anti-Alkohol-Kampagnen oder die Umstellung aller Zigarettenautomaten auf Kartensystem. Aber es bräuchte Maßnahmen geistiger, mentaler Art. Ich idealisiere nicht die Bewältigung dieser Probleme in der DDR, aber der Ansatz war richtig.“

„Deutschland hat lange gebraucht, um den heutigen Status zu erreichen und es war nicht immer leicht: unsere Revolution unterscheidet sich wenig von eurer Perestroika. Bei euch gibt es Geschichten des Blutvergießens wegen kommerziellen Unternehmen, bei uns ist es der Kampf zwischen Punks aus dem Osten und Neo-Nazis aus dem Westen. Das ist einer der wundesten Punkte“, sagt ein weiterer Bekannter. „Irgendwann erfährt die Welt die ganze Wahrheit über die Wiedervereinigung Deutschlands. Mit dem Geld und der Qualität kamen auch die Braunen aus dem Westen. Wie kann ein Land mit so tragischen Erfahrungen aus der Geschichte immer noch Träger einer antihumanistischen Idee gebären!!!“

Nach diesen Ausführungen erscheint folglich die DDR als die helle, etwas traurige Vergangenheit, die BRD hingegen als dunkle und aggressive Zukunft. Dem ist aber nicht so. Ich bin Russin. Deutschland ist für mich auch bei näherer Betrachtung weit davon entfernt, Heimat zu sein. Aus Filmen und Geschichtslehrbüchern ist mir bekannt, dass die DDR fast das gleiche wie die Sowjetunion war, nur besser und freier. Von meiner Mama weiß ich, dass dort gute Damenstiefel hergestellt wurden, für die reiche Moskauerinnen bereit waren, ihre hoch angesehenen Männer zu verkaufen. Die BRD hingegen ist irgendetwas Unerreichbares, nicht Reales. Ich selbst war in Westdeutschland und kann sagen, dass es auf seine Art an Las Vegas erinnert: Nachts versinkt es im Neon-Licht, tagsüber wird jeder umarmt, der Geld hat. Dort gibt es auch Arbeitslosigkeit, das Geld nicht auf der Straße, trotzdem muss man dort Bananen kaufen. Und auch der Osten ist nicht ganz so lieb und freundlich, wie man denken könnte. Ich sah eine Demonstration in Halle mitten auf dem Marktplatz. Punks und Neo-Nazis standen sich direkt gegenüber, Letztere schrieen betrunken irgendwas von Stalingrad. Ich muss nicht erwähnen, wie ich mich in diesem Moment gefühlt habe… Und deshalb würde ich nirgendwo lieber wohnen wollen als in Russland mit seiner Unehrlichkeit, Mittellosigkeit und der ewigen russischen Sehnsucht: dort lernt man wenigstens von Kindheit an, Fremden zuzulächeln. Auch wenn es mit einer „eigenartigen Liebe“ ist, liebe ich trotzdem…

Elena Shalevich, 21.03.07