Was haben Berlin und Ufa eigentlich gemeinsam? Ja, beide Städte sind für ihre türkischen Bistros und Restaurants bekannt, aber was verbindet diese Städte musikalisch?
So manche unter euch wird diese Frage hoffnungslos überfordern, aber die Kenner wissen genau, worauf ich hinaus will – beide Städte sind als Hochburgen des Rock bekannt, und zwar weit über die jeweiligen Landesgrenzen hinaus! Genauso, wie es kaum junge Deutsche bzw. Deutschsprachige gibt, die noch nie Lieder von den „Ärzten“ oder „Wir Sind Helden“ mitgesungen haben, gibt es kaum Russen, die nicht mit dem Schaffen solcher Bands wie „DDT“ oder „Zemfira“ vertraut sind. Von Moskau bis Kiew, von Tallinn bis Astana – die Rockkünstler aus Ufa sind in der ganzen ehemaligen Sowjetunion große Stars. Die Rockband „DDT“ ist mittlerweile eine „lebende“ Legende – egal wo und unter welchen Umständen „DDT“ auftritt, diese Band füllt in der gesamten Ex-UdSSR ganze Stadien. Ja, es gibt so einige Künstler aus Ufa, die es nicht mehr nötig haben, dass man für sie wirbt. Doch wie steht es in Ufa mit jungen Bands, die nur darauf warten, ihre Musik russlandweit präsentieren zu können?
Eine solche Band würde ich meinen Lesern gerne vorstellen, eine Band, die in dem Musikgenre, in dem sie spielt, den russlandweiten Vergleich ganz und gar nicht scheuen braucht. Es ist die PopPunk-Formation „Kollekzija Dnej“ (engl. „Days Collection“). Das erste Mal sah ich die Jungs auf einem Punkkonzert, an dem mehrere Punkbands aus Ufa teilgenommen haben. Das Konzert fand in einem Kinosaal statt – zwischen Leinwand und Kinoplakaten zu irgendwelchen Zeichentrickfilmen. An dieser für ein Punkkonzert doch sehr ungewöhnlichen Location traten viele verschiedene Bands auf, so dass ich doch ziemlich überrascht war von dem Ausmaß der Punksubkultur in Ufa – von weniger guten Gruppen mit wild ins Mikro brüllenden „Sängern“ bis zu skurrilen, aber ziemlich coolen musikalischen Vereinigungen wie „Ejbet Heler“, einer Band mit einem tatarischen Namen, russischen Bandmitgliedern und einem auf englisch singenden US-Amerikaner als Sänger.
Die meisten Auftritte dieses Abends verblassten jedoch in meinem Gedächtnis, sobald der Headliner des Abends die Bühne betrat – „Kollekzija Dnej“. An der größer werdenden Geräuschkulisse der Zuschauer vor dem Auftritt der Gruppe wurde mir klar, dass diese Band unter den Punkliebhabern Ufas bereits ziemlich bekannt ist. Tatsächlich erzählten mir Freunde, die mich zu diesem Event begleiteten, dass die Jungs bereits an den größten Punkfestivals Russlands teilgenommen haben und auch schon einen Vertrag haben. Die Musik und das über sie Erzählte bewegten mich schließlich dazu, über die Band einen Artikel in unserer Zeitung zu schreiben. Ich nahm Kontakt mit dem Leadsänger der Gruppe auf und verabredete mich zu einem Treffen.
„Wint“ (dt. Schraube), der Sänger der Band „Kollekzija Dnej“ erwies sich als ein sehr umgänglicher und lockerer Typ und erzählte mir mit Vergnügen über die Band und die russische Punkkultur im Allgemeinen. „Kollekzija Dnej“ entstand vor 3 Jahren und verbuchte in dieser kurzen Zeit bereits beachtliche Erfolge – die Band hat bereits auf dem größten Punkfestival in Moskau und auch am bedeutendsten Rockevent Russlands, auf dem Festival „Naschestwije“ spielen dürfen.
„Das Festival dauerte drei Tage und wir traten am letzten, dritten Tag, auf der Punkbühne auf – als ich das erste Mal auf den riesengroßen, mit leeren Bierflaschen und Schnapsleichen bedeckten Platz blickte, auf dem das Ganze stattfand, war es zugegebenermaßen ein ziemlich komisches Gefühl – der Auftritt vor so vielen Menschen, die Atmosphäre allgemein war aber wirklich genial!“, so Wint. Dass ihn die herumliegenden Schnapsleichen etwas verstört haben mögen, ist kein Wunder, denn der 24-jährige Familienvater ist überzeugter Nichttrinker – und das schon seit mehr als 2 Jahren: „Früher trat ich oft angetrunken ans Mikrofon und vergaß die Texte; mir wurde einfach klar, dass es nicht so weiter gehen konnte, wenn ich erfolgreich Musik machen will und ich gab das Trinken für immer auf“. Wint ist auch derjenige, der in der Band die Texte schreibt und so spiegeln sich seine Ansichten bezüglich des Alkohols auch deutlich in den Stücken von „Kollekzija Dnej“ wider – immer wieder wird das Thema angeschnitten, jedoch auf eine eher lockere und ironisierende Art und Weise. Es ist auch irgendwie logisch, dass es nicht auf eine andere Art angesprochen wird, denn immerhin machen die Jungs Punkmusik – da wäre Predigten zu halten doch ziemlich fehl am Platze. „Unsere Musik richtet sich vor allem an junge Hörer – wir singen darüber, was den Jugendlichen gefällt, was sie bewegt und was sie ankotzt“, so Wint. „Es gibt auf unserer schon fertigen LP, die im Februar 2006 erscheinen soll, einen Track mit dem Titel ‚Facecontrol’ – da wird von uns das Benehmen unserer Securityleute auf Konzerten besungen, das oftmals einfach unerklärlich ist“. Und in der Tat – das Benehmen von der Security hier in Ufa lässt meistens zu wünschen übrig! In Russland gibt es zahlreiche Security- bzw. sogenannte „Sicherheitsfirmen“, die gegen Bares grimmig guckende Muskelpakete ausleihen. Da hier in Russland die Angst der Unternehmer und Organisatoren vor unvorhersehbaren Zwischenfällen doch ziemlich groß ist, ist die Nachfrage nach solchen Diensten auch dementsprechend gut. Das Problem ist aber, dass die ausgeliehenen Securityleute meist nicht die geringste Vorstellung von den Veranstaltungen haben, bei denen sie eingesetzt werden. Und so habe ich im bereits oben erwähnten Kinosaal erlebt, dass die Security völlig unschuldige Punker angegriffen hat, weil sie dachten, dass diese Krawalle machen wollen – dabei handelte es sich bloß um „stagediving“, eine unschuldige Konzerttradition der Punkkultur.
Zurück zu Wint und der „Ansammlung von Tagen“, so der Name der Band auf deutsch. Seit ungefähr einem Jahr wird die Gruppe vom Frontmann des ältesten und wohl bekanntesten PopPunk-Kollektivs Russlands produziert, vom Leadsänger der Moskauer Band „Naiv“. „Moskauer Bands wie ‚Naiv’ und ‚Tarakany’ sind nahezu die einzigen guten Punkbands in Russland, deshalb sind wir auch ziemlich froh, von ‚Naiv’ produziert zu werden; ich war ein Fan von den Jungs lange bevor ich sie persönlich kennen lernen durfte“, schwärmte Wint während unseres Gesprächs. „Wir fühlen uns der kalifornischen Punkszene näher und distanzieren uns deshalb bewusst von dem Schaffen der meisten russischen Punkgruppen, denen der Protest wichtiger ist, als die Qualität der Musik; wir halten qualitative Musik für eine ebenso wichtige, wenn nicht noch viel wichtigere Komponente des heutigen modernen Punk“.
Es sind bereits einzelne Tracks der Band auf verschiedenen russischen Punk-Compilations erschienen – u.a. auf dem russischen Tributesampler der legendären kalifornischen Punkband ‚Ramones’. Wenn ihr euch jetzt schon das noch nicht erschienene Album von „Kollekzija Dnej“ anhören oder ein genaueres Bild vom Schaffen der Gruppe machen wollt, dann empfehle ich euch, meinen lieben Lesern ;), die offizielle Webseite der Band, die da lautet –
Es lohnt sich auf alle Fälle vorbeizuschauen, denn außer zahlreichen Informationen zur Musik der Punkvereinigung findet ihr auf der Seite nette Artikel von Wint, in denen er unter anderem die Vorlieben der heutigen russischen Musikliebhaber analysiert. Und da er in einem Musikgeschäft arbeitet, hat er schon so einige skurrile Situationen erlebt und weiß über die Musikgeschmäcker der Masse viele lustige Anekdoten zu erzählen. Denn ob Ihr es glaubt oder nicht, liebe deutsche Leser – „Schni, Schna, Schnappi“ und Zlatko-ähnliche „Künstler“ sind nicht nur in deutschen Musikregalen zu finden – auch die Russen können sich mit solchen Acts „rühmen“! Damit ihr aber nicht in Versuchung geratet, euch „Schnappimusik“ in den CD-Player zu schieben, kann ich nur dringend empfehlen, euch „Kollekzija Dnej“ auf der Webseite anzuhören – denn Punk ist international und überwindet Sprachbarrieren mit Leichtigkeit!
Sergey Simonov, Dezember 2005