Im Jahre 1813 kamen Baschkiren zusammen mit der Russländischen Armee im Kampf gegen Napoleon nach Deutschland und nahmen so auch an der Völkerschlacht bei Leipzig teil. Im Oktober 2013 jährte sich diese zum 200. Mal. Mit mehr als 6000 Teilnehmern aus 25 Ländern wurde im Rahmen der Gedenkwoche das Kampfgeschehen in großem Stil nachgestellt. Auch einige Baschkiren zog es dazu erneut nach Leipzig, in Gestalt einer Reenactment-Gruppe aus Ufa.
“Aus allen Weltgegenden des Europäischen Continents und aus den unermeßlichen Steppen von Asien,
sammelten sich und sahen wir hier die wildfremdesten Nationen.“
(aus den Erinnerungen eine Pastors aus Taucha bei Leipzig)
“Es waren in diesen Tagen Menschen und Soldaten von fast allen Nationen hier zu sehen, […].
Unter andern machte man nähere Bekanntschaft mit dem Volke der Baschkiren.“
(aus den Aufzeichnungen eines Einwohners von Görlitz)
Als Untertanen der russischen Zaren leisteten die Baschkiren seit der Mitte des 16. Jahrhunderts Kriegsdienste, deren Umfang im Laufe der Zeit immer mehr zunehmen sollten. Zur zahlenmäßig größten Aushebung baschkirischer Regimenter kam es während der Zeit der Napoleonischen Kriege 1812-1814. Im Bestand der sogenannten irregulären Einheiten, zu denen etwa auch Kosaken und Kalmücken gehörten, gelangten sie so auf die europäischen Kriegsschauplätze zwischen Moskau und Paris.
Die Erscheinung der Baschkiren stellte für viele Zeitgenossen selbst in jenen turbulenten Jahren etwas Außergewöhnliches dar – vielerorts sah man in ihnen „die merkwürdigsten fremden Truppen.“ Das lag zum einem an ihrer exotisch anmutenden Kleidung, den Pelzmänteln, die „blos durch einen Gürtel um den Leib zusammengehalten wurden“, oder den Kopfbedeckungen, die aus einer „zuckerhutförmigen hohen Mütze bestand, und mit einer dicken Pelzwulst umgeben war, die heruntergeschlagen werden konnte“. Zum anderen lag das vor allem aber auch daran, dass die Baschkiren fast ausschließlich „mit Bogen und Pfeilen bewaffnet“ gewesen sind.
“Vormittags sah man auch die ersten Baschkiren in unserer Stadt,
sie hielten auf dem Markte, ihre spitzen Mützen, ihre Bogen und Pfeile,
und ihre sonderbare schnell plappernde Sprache erregten die Aufmerksamkeit Aller.“
(aus den Aufzeichnungen eines Einwohners von Zittau)
Ein jährlich wiederkehrendes Ritual
In Leipzig ist es mittlerweile zur festen Tradition geworden, während der Gedenktage der Völkerschlacht an historischer Stelle – auf den Schlachtfeldern von einst – das Geschehen in aufwendigen Gefechtsszenen nachzustellen. Als Reenactment wird eine solche Neuinszenierung historischer Ereignisse bezeichnet. Dem Selbstverständnis der beteiligten Darsteller entsprechend wird dabei viel Wert auf ein hohes Maß an Authentizität gelegt. Mit möglichst originalgetreuen Kostümen und sonstigen Requisiten soll Geschichte in einer lebendigen Weise vermittelt und den Zuschauern in gewisser Hinsicht auch direkt erlebbar gemacht werden.
Für das 200jährige Jubiläum der Völkerschlacht sollte dies ganz besondere Ausmaße erlangen. Eine ganze Woche, vom 17. bis zum 21. Oktober, wurde für die Gedenkveranstaltung eingeplant, mit der Darstellung der Kampfhandlungen am 20. Oktober als deren Höhepunkt. Auf einem etwa 50 Hektar großen Gelände wurde das Kampfgeschehen mit Infanteristen, Kavalleristen und Artillerie nachgestellt. Insgesamt 4 Stunden dauerte das Spektakel. Die offiziellen Besucherzahlen sprechen von bis zu 37000 Zuschauern. Zu den Darstellern gehörten Reenactment-Gruppen aus über 25 verschiedenen Ländern. Mit den weitesten Anreiseweg dürfte dabei aber auch 200 Jahre später eine Handvoll Baschkiren gehabt haben.
Das erste baschkirische Reiterregiment „Ljubizar“
„Das erste Mal“, so berichtet Ildar Schajachmetov, Vorsitzender des Reenactment-Klubs Ljubizar aus Ufa, „habe ich als junger Mann 1992 am Jubiläum der Schlacht von Borodino (September 1812) an einer historischen Gefechtsdarstellung teilgenommen.“ Es habe ihn sehr beeindruckt, was er da gesehen hat. Danach ist jedoch einige Zeit vergangen, er hat studiert und als Künstler an der Pädagogischen Universität gearbeitet. „Die Erlebnisse von Borodino aber“, so sagt Ildar, „habe ich immer im Kopf behalten.“ Erst 2005, also ganze 13 Jahre später, hat er die Idee dann doch noch aufgegriffen und eine eigene Reenactment-Gruppe gegründet.
Bei der Frage nach seiner Motivation zur Gründung des Klubs bekommt Ildar große leuchtende Augen. Natürlich ist da erst mal die Begeisterung für das Reenactment an sich, wobei er bemerkt: „Außer uns kann die Baschkiren doch niemand besser, niemand natürlicher darstellen. Wir zeigen ja im Prinzip nur uns selbst.“ Dabei spielt bei ihm offensichtlich auch ein starkes patriotisches Gefühl eine Rolle. Voller Begeisterung erklärt er: „Unsere baschkirischen Soldaten, unsere Vorväter, haben an allen russischen Kriegen teilgenommen, obwohl es für sie schwer war. Wie kann man darauf nicht stolz sein? Im Kampf gegen die Franzosen haben sie Europa befreit und haben sich würdig aufgeführt, haben zum Beispiel keine Plünderungen begangen.“ Eine sicherlich etwas idealisierte Sicht. Gerade für die irregulären Einheiten gehörten Plünderungen zu einer nicht unüblichen Praxis.
Anfangs waren es vor allem einige seiner Studenten, die er um sich versammeln konnte. Die gemeinsam mit ihnen zusammengetragenen Materialien haben die Grundlage für die spätere Arbeit des Klubs gelegt. Bereits im folgenden Jahr konnten sie so bereits zum ersten Mal erneut nach Borodino fahren und an den Gefechtsdarstellungen teilnehmen. 2012 wurde der Klub umgeformt und erhielt dabei auch seine heutige Zusammensetzung. Mittlerweile sind es weniger Studenten, als ein fester Kern von etwa 6-7 „Gleichaltrigen mit denselben Interessen“, wie Ildar lächelnd bemerkt.
Die Bezeichnung „Erstes baschkirisches Reiterregiment Ljubizar“ geht ebenfalls zurück auf die Zeit der Napoleonischen Kriege. Der Überlieferung nach soll Michail Kutusow, Oberbefehlshaber der russischen Truppen, nach der Schlacht von Borodino einen baschkirischen Kommandeur zu sich gerufen und ihm folgende Worte für seine Mitstreiter mit auf den Weg gegeben haben: „Meine lieben Baschkiren (ljubeznie moi baschkirzy), sehr gut schlagt ihr euch!“ Aus diesem Lob, so erklärt zumindest Ildar, ist im Laufe des weiteren Feldzugs das noch heute bekannte Lied mit dem Titel „Ljubizar“ entstanden.
„Sowohl in Moskau waren wir / und auch Paris das sahen wir /
und den Eroberer-Franzosen / gut und häufig schlugen wir.“
(Strophe aus einer 1910 aufgezeichneten Variante des Liedes Ljubizar)
Wie im Reenactment üblich, so stellen die Mitglieder ihre Kostüme und alle anderen Gegenstände auf Grundlage historischer Quellen – zeitgenössischer Berichte und vor allem aber Zeichnungen – selber her. In der Werkstatt von Rafael Amantaev, einem Mitglied des Klubs, arbeitet dieser gerade an einer Peitsche zum Antreiben der Pferde. Weitere hängen an der Wand, daneben Köcher für Pfeile, Fellmützen und andere Requisiten. Zwischendrin finden sich immer wieder Bücher mit alten Abbildungen. Früher war Rafael Tänzer in einem staatlichen baschkirischen Folkloreensemble, jetzt betreibt er diese Werkstatt, in der er nicht nur für den Klub, sondern auch auf Bestellung anderer Gruppen traditionelle baschkirische Kleidung und Accessoires herstellt.
Die fertiggestellte Peitsche testet er gleich mal auf dem Flur des Gebäudes, in dem sich seine Werkstatt, zusammen mit weiteren ganz unterschiedlichen Büros, befindet. Ein lauter Knall schallt durch den Korridor. Rafael sieht zufrieden aus. Eine Tür öffnet sich und die Mitarbeiterin eines anderen Unternehmens schaut nach, was vor sich geht. Aber man kennt das hier schon.
„Leider haben wir keine eigenen Räumlichkeiten, wo wir auch mal trainieren können“, erklärt Ildar. „Und wir können ja beispielsweise nicht einfach in Hinterhöfen mit unseren Bögen schießen.“ Auch das Reiten muss gelernt und geübt werden. Hierfür steht dem Klub das Gelände einer Pferdezucht in der Nähe von Ufa zur Verfügung. „Bisher treffen wir uns sehr unregelmäßig, eher spontan oder wie es den meisten eben gerade passt. Oft auch nur mal kurz vor den Veranstaltungen.“
Neben der Teilnahme bei Reenactment-Festivals tritt der Klub ebenso bei verschiedenen Folkloreveranstaltungen auf. „Unser Ziel ist es ja auch“, so Ildar, „das kulturelle Erbe der Baschkiren zu erhalten und stärker in die Öffentlichkeit zu bringen.“ Präsentiert werden bei derartigen Gelegenheiten deshalb etwa auch Tänze zum Spiel traditioneller Musikinstrumente – dem Kubyz, einer Maultrommel, und der Kuraj, einer Flöte und das wohl bekannteste Instrument Baschkortostans.
„Ein Baschkire ließ sich auf der Neustadt beim großen Brunnen
auf einer sehr einfachen Rohrpfeife hören.“
(aus den Erinnerung eines Einwohners Saalfelds)
Leipzig 2013
Das 200jährige Jubiläum der Völkerschlacht war für den Klub „Ljubizar“ mittlerweile schon der dritte Besuch in Leipzig. Bereits in den beiden Vorjahren haben sie an den Nachstellungen teilgenommen. 2011 konnte Ildar Kontakt aufnehmen zu Irek Baischew, einem Landsmann aus Ufa, der in Leipzig lebt und dort 2003 die Errichtung eines Gedenksteins zur Beteiligung der Baschkiren an der Völkerschlacht gestiftet hat. „Ich habe ihm gegenüber meinen Wunsch geäußert, an der Veranstaltung teilzunehmen und es hat geklappt, wir haben eine Einladung erhalten.“
„Französische Regimenter gibt es viele, aber ja! / Warum also schießen dann ihre Kanonen nicht? /
Ihre Kanonen schießen deshalb nicht / weil ihr Oberst bei den Baschkiren in Gefangenschaft ist.“
(Strophe eines baschkirischen Liedes, entstanden im Zuge der Napoleonischen Kriege)
Auch 2013 haben die Gäste aus Ufa als Darsteller baschkirischer Reiterregimenter während der Gefechtsdarstellung dementsprechend an den Kavallerieszenen teilgenommen. „Ein toller Moment war“, so beschreibt es der dabei immer lebhafter werdende Ildar ausführlich, „wie wir in einem herrlich ausgeführten Manöver einen Franzosen gefangen genommen haben“. Er strahlt über das ganze Gesicht.
“Da wir gehört hatten, daß der Hauptbiwak bis nach Probstheida vorgerückt war,
so wanderten wir Karavanenweise dorthin.“
(aus den Aufzeichnungen eines Einwohners Leipzigs)
Zum Programm der Festwoche gehörte daneben aber auch die Ausrichtung historischer Biwaks der unterschiedlichen Nationen. Die Besucher konnten hier im Verlauf der gesamten 5 Tage in direkten Kontakt mit den Darstellern kommen. „Wir haben uns viel mit den Leuten unterhalten, die an unser Zelt kamen“, erzählt Ildar, „oft auch ohne Dolmetscher, das ging schon irgendwie. Sie zeigten sich interessiert und waren beeindruckt von unseren Kostümen. Manchmal hab ich auch für sie auf der Kuraj gespielt. Den Kindern haben wir gezeigt, wie man mit dem Bogen schießt.“ Gerade in solchen Begegnungen scheint doch vor allem der Wert dieser Veranstaltung zu liegen, viel mehr als in dem groß inszenierten Spektakel der eigentlichen Gefechtsdarstellungen. Man lernt sich kennen, man kommt ins Gespräch miteinander.
Ein weiterer Höhepunkt für Ildar und seine Gruppe war in diesem Jahr der Besuch von Schwarza, heute einem Ortsteil des thüringischen Rudolstadt. Hier hatten 1814 Baschkiren, die, bereits auf dem Rückmarsch begriffen, in dem Örtchen Halt gemacht haben, ebenfalls eine Probe ihrer Fertigkeiten im Umgang mit Pfeil und Bogen gegeben. In der Chronik des Nachbarortes wurde das folgendermaßen kurz festgehalten: „In Schwarza schoß ein Baschkir in den Kirchthurm.“ Dort blieb der Pfeil dann auch stecken, als „Wahrzeichen des Ortes“, bis er 1819 herunterfiel und durch einen eisernen Pfeil ersetzt wurde.
Unter Anwesenheit der baschkirischen Gäste wurde am Kirchengebäude eine Gedenktafel an dieses Ereignis feierlich eröffnet. Sie sind zusammen mit einigen Don-Kosaken-Darstellern aus Moskau, die ebenfalls in Leipzig waren, hierhergekommen. „Ganz wie früher“, scherzt Ildar“, da waren die Baschkiren ja auch immer zusammen im Verband mit den Kosaken“. Entworfen hat die Tafel Azat Kuschin, ein Mitglied des Klubs. Arrangiert wurde das Ganze erneut von Irek Baischew aus Leipzig. Auch die gerade erst rekonstruierte Kugel mit dem Pfeil wurde an diesem Tag erneut auf die Kirchturmspitze gesetzt. In der Kugel selbst befindet sich eine Kapsel, in die Ildar eine Erinnerungsmedaille des Klubs gelegt hat.
„…und indem ich dieses schreibe, werden sie wohl noch reiten, um wieder
in ihre alte Heimath zurückzukommen.“
(aus den Erinnerungen eines Einwohners von Weimar)
Zum Abschluss sangen die „baschkirischen Krieger“ zusammen mit den Kosaken im Chor das Lied „Ljubizar“ und schenkten dem Gastgeber, der sie in Schwarza so herzlich aufgenommen und bewirtet hatte, zum Andenken noch einen Pfeil. Danach machten sie sich wieder auf den Weg zurück nach Ufa. Wenn auch vermutlich nicht für allzu lange, eine Einladung nach Leipzig für 2014 haben sie bereits.
(Alle Fotos, mit Ausnahme der historischen Zeichnung,
entstammen dem Archiv von Ildar Schajachmetov)
Matthias Kaufmann, Februar 2014