„Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ – hinter diesem sperrigen Namen verbirgt sich die ansonsten eher unter der Bezeichnung „Mormonen“ bekannte Glaubensgemeinschaft, die 1830 von dem US-Amerikaner Joseph Smith jun. in New York gestiftet wurde. Die ersten Jahrzehnte der Kirchengeschichte waren sehr von Diskriminierung und Vertreibung geprägt, in deren Folge die junge Mormonengemeinde immer weiter nach Westen, in bis dahin unbewohnte Gebiete, fliehen musste. 1848 gründeten sie die Stadt Salt Lake City und fanden in dem Gebiet der heutigen US-Bundesstaaten Utah und Nevada allmählich Frieden. Die starke Missionstätigkeit, die nicht zuletzt Grund für die Vertreibung gewesen war, hat dazu geführt, dass die Kirche Jesu Christi HLT heute in über 160 Staaten mit mehr als 13 Millionen Mitgliedern vertreten ist.
In Baschkortostan sind die Mormonen noch relativ unbekannt. „Die erste Mormonin wurde hier vor ungefähr 15 Jahren getauft“, erzählt Elder John, Berater des Missionspräsidenten von Jekaterinburg. „Heute hat die Gemeinde Ufa ca. 500 bis 600 Mitglieder.“
Betritt man an einem Sonntagmorgen den schlichten Bau der ufaer Mormonenkirche, so wird man auch als Unbekannter freundlich empfangen, mit einem Händedruck willkommen geheißen und sofort in die Unterhaltung der Anwesenden miteinbezogen. Die familiäre Stimmung wird durch das moderne und wohnlich gestaltete Innere der Kirche unterstützt, das ganz und gar nicht an das überladene oder düstere Interieur vieler konventioneller christlicher Gotteshäuser erinnert. Es ist nirgends ein Kreuz zu sehen und statt knarrender Holzbänke stehen für den Gottesdienst bequeme Polsterstühle bereit. Auffallend sind auch die Missionare, meistens ausgesprochen freundliche US-Amerikaner und immer im klassischen Sonntagsanzug mit farbenfroher Krawatte.
Am ersten Sonntag des Monats ist Fastentag. Der Priester führt an diesem Tag nur kurz in die Messe ein, zieht sich dann aber auf seinen Stuhl zurück. An seiner Stelle gehen nach und nach mehrere Gemeindemitglieder zum Rednerpult und berichten den anderen Anhängern sehr emotional von ihren Erlebnissen, Gefühlen und ihrem Glauben. Manche zitieren auch aus dem „Buch Mormon“, einer heiligen Schrift, die die Mormonen als Ergänzung zur Bibel betrachten.
Die Mitglieder der Kirche Jesu Christi HLT verstehen ihren Glauben als eine von Gott gewollte Wiederherstellung jener „Urkirche“, wie sie zu Lebzeiten von Jesus Christus existiert haben soll. Und genau wie bei Jesus wird die Mormonenkirche heute von einem Propheten und einem Rat der Zwölf Apostel geführt.
Für den ersten Teil unserer neuen Reihe „Religionen in Ufa“ hat Baschkirienheute mit Elder John über das Leben in einer Mormonengemeinde, den Glauben und die Missionstätigkeit gesprochen.
Baschkirienheute: Was ist im Leben eines Mormonen besonders?
Elder John: Die Familie steht bei uns sehr im Vordergrund. Wir essen und beten immer gemeinsam und lesen auch zusammen in den heiligen Schriften. Es gibt jede Woche einen Familienabend, an dem man auf andere Termine verzichtet, um einfach nur Zeit für die Familie zu haben. Natürlich ist das mit Teenagern manchmal schwer umzusetzen.
Baschkirienheute: Und welche Möglichkeiten bietet das Leben in der Gemeinde?
Elder John: In Regionen, in denen wir mehr Mitglieder haben, bieten wir neben dem Gottesdienst viele Aktivitäten an. Es gibt z.B. Kurse für Männer und Frauen, in denen sie lernen bessere Eheleute und Eltern zu werden. In Ufa funktioniert das leider noch nicht so umfassend, aber die Kirche wird hier weiter wachsen, weil wir den Menschen die Frohe Botschaft überbringen und weil ihnen das hilft, ein glückliches Leben zu führen.
Baschkirienheute: Was bremst die Menschen, sich Ihnen anzuschließen?
Elder John: Ufa ist eine große Stadt und die Leute müssen lange Wege zurücklegen um zu einer Aktivität zu gelangen. Jetzt im Winter haben besonders ältere Menschen Probleme überhaupt auf die Straße zu gehen. Sehen sie sich draußen mal um, man muss furchtbar aufpassen, dass man sich bei dem ganzen Schnee und Eis nicht lang hinlegt.
Baschkirienheute: Hat Ihre Kirche Kontakte zu anderen Religionsgemeinschaften in Ufa?
Elder John: In anderen Teilen der Welt gibt es viele Kontakte, z.B. gemeinsame Aktionen mit den Hilfsorganisationen der Katholischen Kirche oder der Muslime. In Ufa müssen sich alle Kirchen einmal jährlich mit dem baschkirischen Minister für Religion treffen und Rechenschaft darüber ablegen, was sie tun. Andere Gemeinsamkeiten gibt es soweit ich weiß nicht.
Baschkirienheute: Würden Sie das gerne ändern?
Elder John: Ich wünsche mir das sehr, aber es gibt viele Menschen in Ufa, die eine Abneigung gegen uns entwickelt haben und denken, wir wären eine Sekte. Sie gehen ins Internet und finden all die schlechten Sachen über die Kirche. Wir sagen: „Ok, das ist euer Recht. Aber kommt und fragt uns, wenn ihr euch wirklich ein Bild von uns machen wollt.“ Ja, ich würde es sehr gerne sehen, nicht nur in Ufa sondern überall in Russland, dass wir enger zusammenarbeiten um den Menschen zu helfen. Es gibt hier viele Leute, die eine ganze Menge Hilfe brauchen.
Die Kirche hat z.B. eine Gesundheitsregel, welche die Menschen dabei unterstützen soll zu leben. Wir werden dazu angehalten, auf unseren Körper zu achten und uns richtig zu ernähren. Deshalb sollen wir auf Alkohol, Tabak, Drogen und andere Substanzen, die dem Körper Schaden zufügen, verzichten.
Baschkirienheute: Sie sind eine der am schnellsten wachsenden Religionen weltweit. Was macht sie so erfolgreich?
Elder John: Viele Menschen sehen all die Krisen, Katastrophen und Probleme, die der Welt widerfahren und fragen sich: „Warum ist das alles so?“ In der Kirche finden sie Antworten auf solche Fragen. Vielleicht brauchen die Menschen nicht etwas „physisch Besseres“, sondern eher etwas Hoffnung in ihren Herzen. Genau das ist es, wofür die Kirche steht.
Baschkirienheute: Gibt es neben der Missionsarbeit noch andere Aktivitäten, um neue Mitglieder zu gewinnen?
Elder John: Die Missionsarbeit ist eine freiwillige Sache. Hauptsächlich machen das junge Männer und Frauen im Alter zwischen 19 und 22 Jahren. Alle unsere Mitglieder sind dazu angehalten, in ihrem Umfeld mit gutem Beispiel voranzugehen. Wir bringen ihnen bei ein Leben zu führen, wie Christus es getan hat und dabei anderen Leuten zu helfen auch zu Christus zu finden.
Baschkirienheute: Die letzte Frage dreht sich ums Geld. Wie finanziert die Kirche ihre Aktivitäten?
Elder John: Die Kirche finanziert sich durch das Gesetz des Zehnten. Die Mitglieder sollen zehn Prozent ihres Einkommens an die Kirche zu zahlen. Von diesem Geld werden dann Tempel und Kirchen gebaut. Aber das ist alles freiwillig, also wenn jemand nicht den Zehnten bezahlt, wird er nicht von der Kirche ausgeschlossen. Einmal pro Monat sollen die Mitglieder fasten und das Geld, das sie für ihr Essen ausgegeben hätten, an einen Fonds spenden. Dieses Geld wird zu 100% dafür verwendet bedürftige Menschen zu unterstützen.
Baschkirienheute: Und wie wird die Missionsarbeit finanziert?
Elder John: Unsere Missionare zahlen für alles selbst. Entweder die Familien zahlen oder sie haben selbst gearbeitet und das Geld gespart.
Elder John stammt aus dem US-Bundesstaat Idaho, wo er in einer Mormonenfamilie aufgewachsen ist. Neben seiner beruflichen Tätigkeit in einem forensischen Labor hatte er bis zu seiner Pensionierung verschiedene Leitungspositionen in der Kirche Jesu Christi HLT inne. Derzeit lebt er zusammen mit seiner Frau in Ufa und ist Berater des Missionspräsidenten von Jekaterinburg, zu dessen Einflussbereich auch die ufaer Mormonengemeinde zählt.
Tobias König, März 2010