In Tegel ging alles schnell und einfach, Mama und eine junge, russische Dame machten Kontakt beim Warten, alle Kontrollen ohne Probleme, 21:35, los gehts, den Flug fast ganz verschlafen, nur ein Käsebrot und eine Sprite, dann Kopfhörer rein und Mütze über den Kopf, angekommen, in Russland klatscht man anscheinend nach der Landung. Erste Unklarheiten bei der Einreisekontrolle, Leipzig statt Berlin auf die Frage „Where are you from?“ geantwortet, nach dem unangenehm spöttischen Empfang durch die beiden jungen, gutaussehenden Passkontrolldamen gleich das nächste Problem, Bordkarte verloren?
Da taucht die junge Russin aus Tegel auf, später rausgefunden: Studentin der Volkswirtschaftslehre, ehemals in Magdeburg jetzt in Leipzig, auf dem Heimweg nach Samara, sie bietet mir ihre Hilfe an. Nachdem ich die Bordkarte gefunden habe, in der unwahrscheinlichsten aller Jackentaschen, werden ihre Dolmetscherfähigkeiten nützlich, 300 Gramm Übergewicht (in Tegel nicht der Rede wert), am Ende 750 Rubel, knapp 15 Euro.
Ich bezahle, wir suchen einen Platz zum Sitzen, überall liegen Leute auf den Bänken, sie sagt, Wanderarbeiter, Leute die hier sind weil sie nichts anderes finden, bestimmt ein paar, der Rest übernächtigte Reisende wie wir. Wir finden doch noch was, fangen an Englisch zu reden, ist für sie entspannter, redet nicht viel Deutsch in Leipzig, doch eigentlich ganz gut, sie erzählt viel, von Samara, von Deutschland, vom Studium, ich stelle Fragen, nur kurz erzähl ich von mir: Filmhochschule, London, Praktikum, Madrid, auch Spreewaldtour.
Sie will 2 Stunden vor Abflug am Gate sein, geht um 5:40, gibt mir Ihre russische Nummer, „for emergency“, sie ist einen Monat da, 2 Wochen mit ihren Eltern im Sanatorium in der Nähe von Ufa, sie heißt Olga und ist 22, auch ihren Nachnamen gibt sie mir zum Abschied, für Facebook, wir schütteln Hände und sie entgleitet, wie ein Traum einem der unzähligen Ruhenden im großen Moskauer Schlafsaal Domodedovo, um 6:20 mach ich mich auf zum Gate, 2 Stunden vor Abflug.
Der Flug nach Ufa, eine Gruppe von 6 jungen Russen, vielleicht 16-20 Jahre alt, saßen schon mit mir im Flieger Berlin – Moskau, der einzige Junge unter ihnen musste in Tegel beim Check-in 70€ zahlen, 1 Gepäckstück zu viel, beide nur halb voll, der Griff zum Ferrari Portemonnaie, kein Problem.
2 Berliner Großstadtjungs, echte Schnauzen, mit undefinierbarem „bulky bagage“, was die hier machen wüsste ich gerne, auf Montage?
Ein Paar, viel Geld und trotzdem Teil der Welt der Anderen im Flieger, er vielleicht 30, klein, militärisches Aussehen, steifer Blick, durchtrainiert, sie, nicht älter als 20, blond, beeindruckend schön, schwarzer Ledermantel mit Pelzkragen, darunter schwarze Stiefel, hohe, schmale Absätze, Traumfigur.
Ein alter Mann, mit Schnauzer, verdrießlich aber Weise in den Augen, nicht russisch, baschkirisch? Sieht aus wie ein Mann der Teil einer alten Tradition ist die ihn von der hektischen, modernen Welt distanziert, ein Mann der keine Probleme mehr kennt, im Gegensatz dazu ein deutscher, älterer Mann, wirkt als hätte er in Russland seine neue Heimat, Aussiedler, trotzdem unsicher, unstet im Blick.
Als letztes eine große, junge Frau, selbst in der Ankunftshalle vermummt in ihren großen, grauen In-Parka, darunter dunkelgraue Jeans in Timberland Stiefeln, erstaunliche Ähnlichkeit zu meinem Aufzug, trotzdem würdigt sie mich keines ihrer erschöpften, Model-zurück-in-der-Heimatprovinz Blicke.
Naja, in Ordnung. Auch diesen Flug anständig verschlafen, nur ein stilles Wasser vom zuvorkommend, hektisch-unfreundlichen Bordpersonal, Stewardessen, die, wenn man der Aufforderung seine Lehne für den Landeanflug hochzustellen nicht innerhalb einer Sekunde nachkommt, kurzerhand selbst zur Tat schreiten, ich nehme mein Gepäck und verlasse die kleine Ankunftshalle von Ufa, raus in das weiß-grau-braun des russischen Winters. Denke ich.
Vor der Ankunftshalle, der Empfangsbereich, gerade noch viele aufgeregt winkende Leute, jetzt niemand mehr hier außer die Privattaxi-Fahrer, das Angebot jedes Einzelnen, mich zu fahren, schon mindestens 2mal mit der Formel „нет спасибо“ abgewehrt, niemand da, das Handy kein Empfang, langsam mache ich mir Sorgen, da taucht Irina mit ihrem Ehemann auf, jetzt raus in die gleißende Farblosigkeit.
Der erste Eindruck, nicht so kalt wie erwartet, nach den ermüdenden Stunden der Reise, hatte ich mich auf einen erfrischenden Schock gefreut, so nicht, ab ins Auto, Toyota mit Kindersitz, außen staubig, wie alle Autos hier, die Winter sind trocken, anschnallen ist nicht, „welcome to Russia“ sagt Irina zu mir.
Mischa fährt schnell und rabiat, zwischen uns und dem Vorausfahrenden eine Körperlänge Platz, wir passieren ein Autohaus, hier arbeitet Mischa, an beiden Fahrbahnseiten hoch aufgetürmt Schneewälle. Dann, nach ein paar Kilometern durch den Rauch aus Abgasen und gefrierendem Wasserdampf, rechts ab in eine der vielen Gassen im Wall, ein Parkplatz und ein Supermarkt, wir kaufen ein, es gibt Rotwein zum Mittagessen, die Schachtel Lucky Strike kostet 55 Rubel (1,10€) trotzdem nicht viele Rauchen gesehen bisher.
Die Strecke zu Irina zieht sich, eine Brücke, ein verschneiter Fluss, brüchige Straßen, Autowerkstätten am Straßenrand, dann den Berg hoch und wieder runter, die Vorstadt, 2 Kinder, 3 Katzen, 1 Hund und das Mittagessen auf dem Herd. Die Cousine mit der kleinen Tochter zu Besuch, zusammen sprechen sie eine dritte Sprache. Später kommen Freunde, Rustem spielt Basketball, jeden Sonntag um 6 Uhr, lädt mich ein, ich werde kommen, es wird viel gelacht und kein Wodka getrunken, verstehe nichts, trotzdem, lachen geht immer, irgendwann nicht mehr, ich muss ins Bett, Irina zeigt mir eins, Laken drauf, Decke drüber, schlafen, 5 Uhr Ortszeit.
Viktor Sommerfeld, März 2014