Der 24. Dezember 2005. Weihnachten in Deutschland. In Ufa war an diesem Tag von einer Feststimmung allerdings nicht viel zu spüren. Das russisch-orthodoxe Weihnachten wird nämlich am 7. Januar gefeiert, und so wäre der 24. Dezember auch für uns Korrespondenten von ‚Baschkirien heute‘ ein ganz normaler Wochentag gewesen, wenn wir nicht zu einer Weihnachtsveranstaltung in der russland-deutschen Kolchose eingeladen wären.
Die Kolchose trägt den Namen „Rossija“ (Russland) und spiegelt ziemlich gut die multinationale Bevölkerungszusammensetzung Russlands wider. In der Kolchose leben seit Jahrzehnten Deutsche, Russen, Baschkiren und Tataren friedlich nebeneinander. Im Unterschied zu Deutschland ist Russland nicht erst seit kurzem ein Land, wo viele verschiedene Nationalitäten zusammenleben, sondern ist es schon seit Jahrhunderten. Auf dem weiten Territorium der Russischen Föderation leben ohne jegliche Übertreibung Hunderte von verschiedenen Völkern – und für alle diese zahlreichen Völker ist Russland auch die historische Heimat, d.h. dass das russische Territorium ihr historisches Siedlungsgebiet ist. Hinzu kommen noch die stetig wachsenden Diasporas der Völker, deren historisches Siedlungsgebiet in den Ex-Sowjetrepubliken liegt und die aufgrund desolater wirtschaftlicher, und oft auch politischer Situation (siehe Turkmenistan) nach Russland auswanderten.
Auch die Deutschen sind eines der vielen Völker, die bereits seit geraumer Zeit auf dem russischen Territorium siedeln. Regentin des Russischen Kaiserreiches Katharina II., die ihrerseits selbst eine Deutsche war, hat 1762 ein Manifest erlassen, in dem die Mitteleuropäer und vor allem die Deutschen dazu aufgerufen wurden, nach Russland überzusiedeln. Grund war die dünne Besiedelung des riesigen russischen Territoriums – man brauchte Menschen, die das Territorium besiedeln und den Boden kultivieren und für die Landwirtschaft nutzbar machen. So folgten Tausende deutscher Bauern dem Aufruf der Kaiserin und bereits Anfang des 18. Jahrhunderts stellten sie eine bedeutende Minderheit im Reich.
In der Region um Saratow lebten besonders viele Deutsche, und um dieser Tatsache gerecht zu werden, wurde 1924 die autonome Republik der Wolgadeutschen gegründet. Nach dem Beginn des zweiten Weltkrieges ließ Stalin die Republik jedoch abschaffen und die Deutschen, die im europäischen Teil der UdSSR lebten, nach Kasachstan und Sibirien deportieren – aus Angst, dass sie mit nazideutschen Truppen kollaborieren.
In Baschkortostan gibt es ebenfalls russlanddeutsche Gemeinden. In der Hauptstadt Ufa z.B. gibt es eine lutheranische Kirche, der allerdings in letzter Zeit nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde, da die meisten Russlanddeutschen bereits in die Bundesrepublik ausgewandert sind, weshalb in Ufa gar nicht so viele Lutheraner mehr leben.
Die russlanddeutsche Kolchose „Rossija“, die wir besuchten, war ehemals zum größten Teil mit Deutschen besiedelt, doch auch hier ist dessen Anzahl in den letzten Jahren stark geschrumpft. Der Kolchosenvorsitzende erzählte uns von einigen altansässigen Familien, über die Reliquien, die sich bereits seit Jahrhunderten im Familienbesitz befinden und die noch von ihren Vorfahren aus Deutschland mitgebracht wurden. Auf den Strassen der Kolchosensiedlung hörten wir alte Frauen miteinander Deutsch reden, und zwar erinnerte ihr Deutsch stark an die schwäbische Mundart. Doch auf der weihnachtlichen Veranstaltung, an der wir uns mit einem Vortrag auf deutscher Sprache beteiligten, wurden wir von den meisten nicht verstanden – außer alten Menschen, so schien es, sind in der Kolchose keine Deutschen mehr übrig geblieben. Die größte Gemeinde der Russlanddeutschen aus Baschkortostan lebt in Kassel und derzeit wird versucht, in eben jenem Kassel eine Landsmannschaft der „Baschkortostandeutschen“ zu gründen. Ob die Gründung in nächster Zeit gelingt, bleibt abzuwarten. Eines jedenfalls lässt sich schon jetzt feststellen – die Ethnie der Deutschen ist in Baschkortostan vom Aussterben bedroht.
Sergey Simonov