Ich wohne jetzt seit knapp zwei Wochen bei einer Gastfamilie, das heißt, ich kam ein paar Tage vor dem Krim-Referendum an. Im Gegensatz zu Deutschland, ist das in Russland genug Zeit um eine Beziehung zueinander aufzubauen, die eine freie Meinungsäußerung zulässt. Meine Familie, das sind meine Gastgeberin, Elina Nurowna, ihr Ehemann Ilnur, der 9-jährige Sohn Davlad, und die Eltern von Elina; zum einen Teil tartarisch, zum anderen Teil baschkirisch. Nach meiner Einschätzung, die natürlich noch nicht von sehr vielen Russland Erfahrungen zehren kann, eine Familie des gehobenen Mittelstands. Ein komfortables, 3-geschossiges Haus am Ende der Straße einer Wohnsiedlung, im Garten ein Hund, eine Banja und im Sommer eigenes Gemüse. Alle studiert oder in angesehenen Berufen, Elina, Soziologin, Ilnur, Polizist, Elinas Mutter, ehemalige Chefärztin in Rente und Elinas Vater, Militär a.D. Ich wurde gastfreundlich, offen und herzlich empfangen und gleich, wie selbstverständlich, in den Alltag aufgenommen. Trotz meiner schlechten Russischkentnisse habe ich versucht, so viel wie möglich an russischer Berichterstattung zur politischen Situation in der Ukraine und an Reaktionen darauf, aufzuschnappen,
Nicht erst seit Beginn der Krim-Krise, wird in den deutschen Leitmedien wie Bild, Spiegel, SZ oder auch Zeit, ein dunkles Bild von Propaganda und tendenziöser Berichterstattung in den russischen Medien gezeichnet. Was nicht nur ein Urteil über die Abhängigkeit der russischen Medien vom Staat ist, sondern auch ein Urteil über die russische Bevölkerung, denn Propaganda funktioniert nur da, wo sie auf einen bereiten Empfänger trifft. Und gäbe es den nicht, müsste man im Westen nicht drüber schreiben.
Tagsüber ist Politik kein großes Thema, keine Zeit, kein Platz, es gibt wichtigere Dinge. Das Abendessen aber, während dem meist Rossija 1, das russische Staatsfernsehen läuft, ist die Zeit des Meinungsaustauschs. Wie in Deutschland, so auch hier.
Der erste Blick, bestätigte das Bild, das mir von den westlichen Medien vorgezeichnet wurde: Die russische Propaganda, sie wirkt!
Man erzählt mir freudig von Pro-Russischen Demonstrationen, die in Städten außerhalb der Krim aufflammen. Von den Maidan-Faschisten, die den Chef, des ukrainischen Staatsfernsehens aus dem Amt prügeln, weil er Putins Rede zum Krim-Referendum übertragen lässt. Von ukrainischen Soldaten, die Waffen in einem Lagerhaus horten, um damit die unbewaffnete Krim-Bevölkerung zu attackieren. Von Menschen, die im russischen Fernsehen auftreten und ihre Angst äußern, bei der Heimkehr in die Ukraine vom „Maidan“ umgebracht zu werden. Von ukrainischen Polizisten, die auf Befehl des „Maidan“ den Anführer der Pro-Russischen Bewegung in Donezk, Pavel Gubarev, ins Koma prügeln.
Und im Fernsehen, das während der Gespräche weiter läuft, ist ständig die Rede von der gemeinsamen Kultur Russlands und der Ukraine. Intelligent und verdächtig-vertrauensvoll aussehende Leute äußern sich abwertend zu den Maidan-Faschisten. Nikolaj Walujew tritt auf, „ein echter Politiker“ (Anmerkung: Mitglied und Duma-Abgeordneter der russischen Regierungspartei „Einiges Russland“), im Gegensatz zu Klitschko, „der eh kein Ukrainer, sondern eine von Deutschland und den USA kontrollierte Marionette ist“. Und neben ihm sitzt der Chef eines Moskauer Rocker Clubs, der seinen Freund Wladimir Putin lobpreist und seinen Stolz auf dessen mutige Taten als russischer Präsident verkündet.
Später, als das Speiseeis auf den Tellern schon geschmolzen ist, packt Elinas Mutter einen alten Sowjet-Atlas aus, und zeigt auf die Region um Odessa. Die wollten jetzt auch zu Russland gehören, das einzige Problem sei nur, dass es keine Verbindung zum russischen Festland gebe.
Soweit, so klar?
Eben nicht. Auf den zweiten Blick musste ich mir unweigerlich ein paar Fragen stellen.
Was ist eigentlich der Unterschied zwischen den gemachten Beobachtungen, und den Beobachtungen die man machen würde, wenn man mir und meiner Familie abends in Deutschland beim Tagesthemen schauen über die Schulter guckte?
Es gibt keinen. Natürlich, die Menschen hier glauben das, was sie täglich in ihren Nachrichten aufgetischt bekommen. Aber das ist in Deutschland nicht anders. Der Unterschied liegt also in der Qualität der Informationen?
Viele Male, konfrontiert mit öffentlicher Berichterstattung, hab ich mir insgeheim gedacht, „was für ein Quatsch, wer soll das denn glauben“. Woher kommt diese reflexartige Skepsis, teilweise sogar Ablehnung gegenüber jeglicher Information aus den russischen Medien? Welche Qualifikation habe ich, zu beurteilen, ob das die Wahrheit ist oder nicht? Und warum sollten die Menschen mit denen ich hier jeden Abend sitze diese nicht haben?
Ich habe eine solche Qualifikation nicht. Nichts, außer einem Weltbild, das den Glauben an eine derartige Information nicht zulassen will. Ein Weltbild, das hauptsächlich aus gut 12 Jahren bewusstem Konsum von Medien geformt wurde. Angefangen mit dem Tagesspiegel meiner Eltern, bis zur selbstgesteuerten Informationsaufnahme in SZ, Spiegel Online und Zeit. Meine Ablehnung geschieht also auf Basis von Informationen, die denselben Quellen entstammen, wie die Stimmen, die den russischen Medien Propaganda vorwerfen. Endlich mal ein Zeitpunkt, um das schöne Bild der selbsterfüllenden Prophezeiung zu bemühen.
Den Menschen die mich jeden Tag umgeben, die mir Suppe, selbstgemachte Pilmeni, Tee, und auch mal einen Wodka auf den Tisch stellen, die ein Zimmer für mich räumen, das normalerweise von einem Familienmitglied benötigt wird, die mit aller Geduld und Liebenswürdigkeit versuchen mir die russische Kultur (und die tatarische und baschkirische) näher zu bringen, die mich täglich zum Lachen bringen, weil sie mir letztlich doch so ähnlich sind, warum sollte ich denen eine größere Leichtgläubigkeit vorwerfen als mir selbst? Das ist es nämlich was wir mit diesem Propaganda-Vorwurf tun. Die Leute hier haben ebenso wie wir ein Weltbild, das nach Bestätigung schreit. Nur eben ein ganz anderes.
Viktor Sommerfeld, März 2014