Ich verabschiede mich. Es ist Sonntagmorgen, die Sonne steht noch tief im Osten und blendet mich. Draußen auf dem Bahnsteig, vor meinem Abteil, führen drei Freunde einen kleinen Abschiedstanz auf, ob sie dazu wirklich singen oder nur die Lippen bewegen, kann ich nicht sagen, die Abteilfenster lassen sich nicht öffnen. Der Zug setzt sich schleppend in Bewegung, einige Zeit können meine Begleiter auf dem Bahnsteig mithalten, nebenher rennen und winken. Dann wird er zu schnell und die drei verschwinden aus dem Blickfeld.
Alleine im Abteil. Auf jeder Seite ein Doppelstockbett aus 2 Pritschen, rote Lederbezüge, in der Ablage über den oberen Betten liegen eingerollt Matratzen und Decken, dazu auf dem Tischchen am Fenster, 4 Garnituren frische Wäsche, eingeschweißt in Plastikfolie. Auf der anderen Seite des offenen Abteils, unter dem gegenüberliegenden Fenster, direkt am Gang, noch eine Pritsche, zu einem Tisch umklappbar.
Pro Großraumwaggon gibt es etwa 10 dieser Schlaf- und Wohneinheiten. Dazu an dem einen Ende des Waggons, Toilette und Raucherzelle, am anderen ein Heißwasser-Boiler und die Kammer der Zugbegleiter.
Das ist die Bühne für die nächsten 30 Stunden.
Die Reise schon mehr als eine Stunde alt. Vorhin ein Zwischenstopp. Ein Mann stieg ein. Groß, dick und schwitzend. Legte sich gegenüber von mir auf die untere Liege links vom Fenster und fing an zu schnarchen. Alle paar Minuten wacht er auf und wischt sich mit einem weißen Handtuch aus einem der Wäschepakete den Schweiß aus dem Gesicht. Die Klimaanlage bläst kalte, leblose Luft aus den Schächten an der Decke.
Erneuter Halt, Sterlitamak, zwei mitgenommen wirkende mittelalte Männer, raue, robuste Typen, betreten das Abteil und werfen ihre schwarzen Sporttaschen auf die oberen Ablagen. Einmal in die Runde nicken, umziehen, Straßenklamotten aus, Jogginghose und Schlappen an. Der ostasiatisch aussehende der beiden kramt aus seiner Tasche ein mit Totenkopf bedrucktes Päckchen Zigaretten hervor, dann gehen sie wieder, erstmal eine Rauchen.
Rechts von mir fängt es an zu schnarchen, leise aber hörbar, was zum Problem werden könnte, denk ich mir, genau wie die Luft in diesem Wagen, 120 Mann und keine Möglichkeit ein Fenster zu öffnen. Trotzdem, eine bessere Stimmung als in jedem deutschen Zug, man ist entspannt und tut nichts. Die meisten liegen in ihren Betten und dösen und es ist erst Mittag. Einige unterhalten sich leise, niemand arbeitet oder „nutzt“ die Zeit. Ein bisschen wie aufm Zauberberg, die Zeit verschwimmt.
Die beiden Raucher kommen zurück und beginnen ohne Worte ein vollständiges Mahl auszupacken, da gibt es eingelegte Gurken und Tomaten, gefüllte Teigtaschen und Brot, Kartoffeln und Hühnchenschenkel, Alufolie knistert und Tüten rascheln. Am Ende kommt eine kleine, schwarze Plastiktüte zum Vorschein, daraus steht der Hals einer durchsichtigen Flasche hervor. Der russisch aussehende schenkt aus der Tüte großzügig in zwei Keramiktassen ein. Das Essen dauert eine wortlose halbe Stunde. Danach begibt man sich zu Bett und schläft routiniert ein. Die machen das hier öfter.
So vergeht der Tag ohne weitere Zwischenfälle und unnütze Worte, oben schläft man, wacht ab und zu auf für eine Zigarette und einen Schluck, unten sitze ich und lese, während der rechts von mir zwischenzeitlich zwar mal seine Position wechselt, aber unverändert weiter schnarcht und ab und zu angestrengt aufstöhnt.
Doch als die Abendsonne die blassbeigen PVC Wände des Zuges orange zu färben beginnt, durchbrechen zwei Ereignisse die friedliche Stille.
Erstens: Zwischenfall mit einer Zugbegleiterin
Ein Abteil weiter sehe ich die Beiden von oben an einem freien Fenstertisch sitzen, Karten spielen, die Reste vom Abendessen noch auf dem Tisch. Die Tassen sind schon wieder voll, sie wirken ein wenig heiterer als noch beim ersten Essen. Leise Flüche dringen herüber. Plötzlich sehe ich die Zugbegleiterin wie aus dem Nichts durchs Abteil rauschen. Eine knochige, ältere Frau, die „RJD“ Uniform aus Bluse, Schürze und knielangem Rock verleiht ihr militärische Autorität. Sie baut sich vor den beiden auf. Ohne jegliche Umschweife beginnt sie in einem nachdrücklichen Tonfall eine etwa fünfminütige Standpauke über das Benehmen im Zug zu halten. Hier seien auch Familien mit Kindern und der Alkohol, der sei eh verboten, sie behalte sich vor, die beiden auch am nächsten Bahnhof hinauszuwerfen. Ich beobachte wie die beiden harten Typen dasitzen wie zwei ertappte Schuljungen. Sie lassen die Ansage der Schaffnerin mit gesenkten Köpfen über sich ergehen. Erst fünf Minuten später, im Bett, nuckeln sie wieder an der Pulle. Ordnung muss sein!
Zweitens. Kurz darauf. Gespräch unter Männern
Kaum liegen alle wieder in den Betten, da fallen die ersten Wörter innerhalb unserer Zwangsgemeinschaft. Sie kommen aus dem gegenüberliegenden Obergeschoss und sind an mich gerichtet. Sie lauten „Otkuda ty?“, „woher kommst du?“. Die nächstliegende aller Fragen, wenn man sich so mitten in Russland im Zug trifft. Es stellt sich heraus, dass die Beiden von Oben aus Sterlitamak kommen und auf dem Weg nach Rjasan sind, einem Schwerindustriezentrum 200 Kilometer vor Moskau. Sie haben dort Arbeit. Der rechts neben mir will nach Moskau, erzählt aber sonst nichts. Das Gespräch geht noch kurz erstaunlich heiter weiter, ich erzähl was ich hier so mache und erfahre, dass der Blonde der beiden von oben Familie in Deutschland hat, war aber noch nie da. Zum Schluss bietet man mir einen Schluck Wodka an, ich stimme auf einen kleinen zu, und kriege ein Teetasse mit 3 Fingerbreit wieder. Als ich mittendrin absetzen muss, lachen alle. Dann zieht man sich wieder zurück.
Die Nacht ist unruhig, wie vermutet schnarchen alle 3, das Rattern des Zuges fängt plötzlich an mich zu stören und das Licht geht nicht aus. Zum Glück hab ich den Wodka getrunken.
Irgendwann als es draußen schon hell wird, hat der Typ rechts neben mir seinen wachen Moment. Erinnert sich, dass die Beiden von oben in Rjasan raus müssen, dort wo wir schon seit einiger Zeit stehen. Einmal wachrütteln, und keine zwei Minuten später sind die beiden umgezogen, eingepackt, fertig zur Arbeit, raus aus dem Zug, zurück in der echten Welt.
Bis Moskau ist es nicht mehr weit, der Zug läuft ruhig und gleichmäßig in den Kasanskaja Bahnhof ein. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, verlassen wir anderen nacheinander das Abteil. Eine kurze Begegnung endet.
Viktor Sommerfeld, Juni 2014