Ein essentieller Bestandteil der russischen Kultur und des russischen Selbstverständnisses ist die orthodoxe Religion. Während der Herrschaft der Kommunisten hat die Kirche in Russland stark gelitten, doch seit dem Ende der Sowjetunion ist ein Wiedererstarken der orthodoxen Kirche zu verzeichnen. Unterschiede zu der katholischen und protestantischen Kirche gibt es einige. Viele Teile des orthodoxen Gottesdienstes werden einem Christen aus Europa fremd und exotisch erscheinen.
Die orthodoxe Kirche zählt heutzutage 300 Millionen in der ganzen Welt. Damit ist sie nach der katholischen und protestantischen Kirche die drittgrößte christliche Gemeinschaft der Welt. In Baschkortostan, wo die Baschkiren größtenteils Anhänger eines moderaten Islams sind, ist die Bedeutung der orthodoxen Kirche sicherlich geringer als in anderen Teilen Russlands. Doch auch in Ufa findet man im Zentrum der Stadt sehenswerte Kirchenbauwerke, von denen die meisten Anfang des 20. Jahrhunderts noch zu Zarenzeiten gebaut worden sind. Charakteristisch für russisch-orthodoxe Kirchengebäude sind die „Zwiebeltürme“. Eine mögliche Erklärung für diese besondere Bauform ist die Nähe zu islamisch geprägten Ländern. Moscheen werden meistens ebenfalls mit Kuppeln versehen. Das Innere eines orthodoxen Gotteshauses besticht in erster Linie durch seine Farbenpracht und Bildervielfalt. Typisch sind die vielen Heiligen-Ikonen, die Wände und Säulen verzieren. Von den vielen prunkvollen, oft vergoldeten Kunstwerken wird man beim ersten Besuch geradezu erschlagen. Man weiß gar nicht, wo man zuerst hinschauen soll.
Ich selbst gehe zwar nicht mehr zur Kirche, doch war ich in meiner Kindheit regelmäßiger in der Kirche. Daher bin ich auch sehr an den Riten der orthodoxen Kirche interessiert. Der orthodoxe Gottesdienst besteht aus der Feier der Sakramente, aus Gebeten und Gesängen und heiligen Handlungen. Man zelebriert den Gottesdienst nach einer bestimmten, gut 1.000 Jahre alten Ordnung. Nach dem Selbstverständnis der orthodoxen Kirche ist sie die direkte Fortsetzung der Kirchen des Zeitalters der Apostel. Das Wort „orthodox“ bedeutet übersetzt rechtgläubig. Im Russischen wird die entsprechende Übersetzung „православный“ (prawoslavnij) verwendet.
Zu Beginn des Gottesdienstes fällt als erstes auf, dass während des gesamten Gottesdienstes nahezu die ganze Gemeinde steht. Dabei steht jeder mit dem Gesicht in Richtung Altar. Lediglich für Ältere und Kranke gibt es an den Seiten Sitzbänke, auf denen sie sich vom langen Stehen ausruhen können. Denn sogar ein gewöhnlicher orthodoxer Gottesdienst kann sich ganz schön in die Länge ziehen, anderthalb bis zwei Stunden sind völlig normal. Die Liturgie wird in der alten kirchenslawischen Sprache abhalten und ist unverständlich für jemanden, der erst seit einigen Monaten Russisch lernt. Fast durchgehend werden Gebete gemurmelt und Texte rezitiert. Regelmäßig läuft ein vollbärtiger Hilfspriester durch die Kirche und verteilt jede Menge Weihrauch-Geruch im Kirchengebäude. Auch diese Prozedur ist fest vorgeschrieben. Unterwegs macht er an jeder wichtigen Ikone Halt, schwenkt den Weihrauch-Behälter Richtung Bild und küsst es dann. Wichtig ist, dass er einmal, um die gesamte Gemeinde herumläuft. Ein Kirchenbesucher, der auf der falschen Seite steht, wird vom Hilfspriester freundlich aber bestimmt darauf hingewiesen. Während der Prozedur singt die Gemeinde. Offensichtlich kennen die Kirchenbesucher alle Lieder auswendig, denn sie verwenden keine Gesangsbücher. Zudem gibt es keine Orgeln oder sonstigen Instrumente, weil Gesänge als Gebete verstanden werden. Da Instrumente nicht beten können, sind sie in orthodoxen Kirchen nicht gestattet.
Die Gläubigen bekreuzigen sich ständig. Man bekreuzigt sich jedes Mal, wenn Gott, Jesus oder der Heilige Geist erwähnt werden und wenn das Kreuz oder eine Ikone verehrt werden. Und das geschieht offensichtlich sehr oft. Auch beim Bekreuzigen gibt es Unterschiede zu den Westkirchen. Orthodoxe Christen bekreuzigen sich mit drei Fingern (Daumen, Zeigefinger, Mittelfinger), was für die Dreifaltigkeit Gottes steht. Man bekreuzigt sich von der Stirn bis zur Brust und anschließend von der rechten zur linken Schulter – im Gegensatz zum Brauch der katholischen Kirche. Einige übereifrige Kirchenbesucher verbeugen sich nach dem Bekreuzigen sogar so weit, dass sie mit ihrem Kopf ihre Knie erreichen. Der vollbärtige Pfarrer steht die meiste Zeit in der Seitenkapelle mit dem Rücken zur Gemeinde. Er ist in ein langes schwarzes, bis auf die Knöchel reichendes hemdartiges Gewand gehüllt.
Plötzlich klingelt ein Telefon. Ein gut gekleideter Mann Mitte Vierzig nimmt das Handy aus der Tasche, schaut kurz drauf und geht ran: „Tut mir Leid, ich kann grad nicht reden. Ich bin in der Kirche“. Dass jemand während eines Gottesdienstes in der katholischen Kirche ans Telefon ist unvorstellbar. Hier scheint es die Wenigsten zu stören. Vielleicht sind sie einfach zu sehr in den Gottesdienst vertieft. An der Eingangstür hängen dabei sogar riesige Schilder mit dem Hinweis, dass Mobiltelefone in der Kirche nicht gestattet sind.
Einerseits scheint der Ablauf der orthodoxen Messe streng reguliert zu sein, andererseits wirkt vieles lockerer als in den Westkirchen. Menschen kommen mitten während des Gottesdienstes und gehen wieder noch bevor er zu Ende ist. Ständig laufen die Gläubigen in der Kirche umher, zünden Opferkerzen auf den überall in der Kirche stehenden Kerzenständern an, küssen Heiligenbilder. Die meisten Frauen – die neun Zehntel aller Kirchenbesucher ausmachen – haben ein Kopftuch auf und einen bis zu den Knöcheln reichenden Rock an. Doch sieht man auch ein zwei junge Frauen in Miniröcken, an denen sich offenbar niemand stört. Die Kopftücher decken das gesamte Farbenspektrum ab und sind mit schönen Mustern, vor allem Blumenmustern, versehen. Männer jedoch sollen wie in den Westkirchen vor dem Betreten des Gotteshauses ihre Kopfbedeckungen abnehmen.
Die orthodoxe Kirche legt großen Wert auf Traditionen. In Russland hielt die christliche Religion Einzug, als der Kiewer Großfürst Vladimir im Jahre 988 das Christentum zur Staatsreligion erhob. Unter der jahrzehntelangen Unterdrückung durch die Mongolen ab 1240 blieb die Kirche ein Rückzugspunkt für Volkstum und nationale Traditionen. Seit der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahre 1454 begriff sich die russische Landeskirche als Schutzmacht über die zahlreichen anderen Landeskirchen im vorderen Orient, die unter die Herrschaft muslimischer Herrscher geraten waren. Bis ins 20. Jahrhundert hinein benutzten russische Staatsführer dieses Argument als Vorwand, das Osmanische Reich zu attackieren und den Machtbereich Russlands bis zum Schwarzen Meer auszudehnen.
Zum Abschluss des Gottesdienstes sagt schließlich der Pfarrer auch mal wieder etwas. Dann gerät die Gemeinde in Aufruhr. Viele strömen nach vorne zum Altar, um sich vom Kirchenvertreter persönlich den Segen geben zu lassen und küssen ihm die Hand. Einige gehen von Ikone zu Ikone, bleiben jeweils für ein kurzes persönliches Gebet stehen. Nach anderthalb Stunden bin ich ganz froh, aus dem mit Weichrauch geräucherten Kirchengebäude wieder an die frische Luft zu kommen.
David Witkowski, Juli 2013