In Russland gibt es nicht nur den Gegensatz zwischen sowjetisch ererbtem Atheismus und den blank geputzten Kuppeln der orthodoxen Gotteshäuser. In der vielfältigen und dennoch friedlichen Religionslandschaft Baschkortostans ist für jeden etwas dabei. Es folgen einige Eindrücke über die Orthodoxie, über zwei evangelisch-lutherische Gemeinden und Erscheinungsbilder des Islams rings um die Belaja.
- Die „recht lobenden“
Mein Zug in die Ukraine fuhr gerade über die Belaja, das Salavat-Denkmal zog am Fenster vorbei, und in meinem Kopf breitete sich ziemliche Leere aus, verbunden mit dem Bewusstsein, so schnell nicht wieder nach Russland und Ufa zu kommen. Mir gegenüber sitzt eine alte Dame, sie sitzt dort seit Wladiwostok, die nicht recht verstehen kann, dass ich nicht mit ihr reden will. Schließlich hat sie viel länger für das Recht auf Melancholie gearbeitet. Beginnt mir die Operation zu erklären, der sie sich unterzogen hätte, über die auf uns wartenden Schikanen an der Grenze zu weinen, Lukaschenko als einzigen für sein Volk eintretenden Präsidenten zu loben und den Verlust der sowjetischen Zeit zu beklagen. Auf dem Tisch liegen kleine Plastik-Ikonen der heiligen Katharina und des Drachen tötenden Georgs, wie man sie in allen orthodoxen Kirchen zu kaufen bekommt. Vor ihnen bekreuzigt und verneigt sie sich mehrmals und ich frage, ob sie schon immer gläubig gewesen sei. Natürlich nicht, sagt sie, in Sowjetzeiten hätte man mehr an den Menschen geglaubt. Und außerdem, als Chemikerin? Aber jetzt würde sie alt, da müsse man langsam die nötigen Vorkehrungen treffen.
Orthodoxe sündigen
Für Heinrich Minich, Pfarrer der evangelisch-lutherischen Gemeinde in Ufa, sind eben solche Beispiele der Beweis, dass es sich bei den Orthodoxen nicht um wirklichen Glauben handele. Viele Kirchgänger hätten die Bibel im Leben kaum aufgeschlagen, sondern nur aus dem „Molitwoslow“ auswendig gelernt, vor dem man sich wie oft verneigen und „Herr erbarme dich“ flüstern muss. Sie verstünden nicht, dass man sich direkt an Gott wenden könne, beteten den Wortlaut ihrer Heiligen nach, statt eigene Gebete zu verfassen, und sündigten, indem sie ihre Ikonen anbeteten wie das goldene Kalb.
Hierarchische Trennung zwischen Priester und Gemeinde
Es ist wohl richtig, dass die Orthodoxe Kirche im Vergleich zu lutherischen oder gar calvinistischen Vorstellungen sehr weltabgewandt ist. In Deutschland erwartet man zu Recht von der Kirche, dass sie sich in den gesellschaftlichen Dialog einmischt, sich für den Schutz von Umwelt und Minderheiten einsetzt, und dass sie sich der Zeit und den Erwartungen der Jugend anpasst, um konkurrenzfähig zu bleiben. Das hat länger zurückreichende Ursprünge, wie etwa die Schwäche staatlicher Verwaltung im Weströmischen Reich, wo die Kirche in die Politik einspringen musste, während dies in den Ostkirchen nicht notwendig wurde und nicht den Auffassungen entsprach, wonach das diesseitige Leben sowieso nur geringen Stellenwert hat. Vielmehr ist der orthodoxen Kirche meist Loyalität gegenüber dem Staat Verpflichtung gewesen, um weiterexistieren zu können.
Das Seelenheil erreicht man ihr zufolge durch konzentrierte Enthaltsamkeit und in Vereinigung mit der Gemeinde und den Heiligen im Gottesdienst. Nun habe ich keinen persönlichen Einblick in das Verhältnis von Priester und Gemeinde in orthodoxen Kirchen. Allerdings tritt äußerlich eine größere Machtdistanz zutage, als etwa in der evangelischen oder katholischen Kirche: Der Priester steht optisch entrückt, vollzieht Rituale halb im Verborgenen und ist dabei nur durch ein Fensterchen in der Sakristei zu sehen, von goldenem Licht umgeben. Nach dem Gottesdienst gibt es natürlich auch persönliche Gespräche mit den Gemeindegliedern, aber ich habe den Eindruck unvermeidlicher Anonymität des Kommens und Gehens, was natürlich schon mit den größeren Mengen an Gläubigen zu tun hat, im Vergleich zu den kleinen westlichen „Inselkirchen“ in Russland, die eine klar umrissene, beständige Mitgliederschar haben, die auch über den Gottesdienstbesuch hinaus enge Kontakte pflegt.
Beeindruckende Bauwerke
Dennoch, wohl kaum jemand wird vom Besuch der orthodoxen (russisch: „prawoslawnye“, also „die Rechtgläubigen“) Kirchen unbeeindruckt bleiben, von denen es sowohl alte und inzwischen restaurierte, als auch neu gebaute gibt, wenngleich in Ufa natürlich dünner gesät als in Moskau oder Petersburg. Aber selbst in armen Gegenden Russlands und der Ukraine erstrahlen die Kuppeln der orthodoxen Kirchen in goldenem Glanz. Die Chöre – man sieht sie häufig nicht, da sie auf der Empore stehen – sind meist auch mit wenigen Personen sehr kraftvoll und scheinen ebenso wenig des Singens der sich unablässig wiederholenden Formeln müde zu werden, wie die oft betagten Gottesdienstbesucher des stundenlangen Stehens. Wahrscheinlich erhält man einen besseren Eindruck, wenn man die Kirchen zu gewöhnlichen Gottesdiensten aufsucht, als nur an Feiertagen.
Wahrscheinlich kann keine Kirche die Nähe zu Jesus Christus für sich pachten, so verschieden die Traditionen auch sind. Und da die orthodoxe Tradition so lang ist, wenngleich wohl manches von ihr in den neunziger Jahren neu erfunden werden musste, werde ich weiter großen Respekt vor ihr haben, selbst ohne alle ihre Rituale zu verstehen. Denn spirituelle Riten spielen im orthodoxen Gottesdienst eine wohl größere Rolle als das Wort der Predigt.
Nicht unerwähnt bleiben soll auch die Gastfreundschaft, die einem zuweilen unterwegs von einem Batushka (dem Pfarrer mit dem meist langen Bart) entgegengebracht wird. So wurde ich, als ich auf dem Rückweg nach Deutschland die Krim besuchte, zusammen mit einem Bekannten (welcher sich gut in der orthodoxen Religion auskennt und dies für die beiläufige „Asylsuche“ zu nutzen wusste) zum Übernachten in das Gästezimmer einer malerisch gelegenen Kirche eingeladen, ohne dass wir nach Herkunft oder Reiseziel gefragt wurden.
Orthodoxe Kirchen in Ufa
In Ufa kann man eine ältere orthodoxe Kirche am Freundschaftsdenkmal und eine andere nahe der Bahnstation Prawaja Belaja besuchen. Weithin sichtbar ist der neue blau leuchtende Tempel „Mariä Geburt“ nahe der Kreuzung Tschernishewskaja und Ajskaja Straße.
Peter Bock, 16.06.07