Viele junge Menschen in Ufa entscheiden sich bewusst gegen ein Leben im Ausland
Der Blick aus dem Fenster der Zweizimmerwohnung im sechsten Stockwerk des Plattenbaus in einem Ufaer Stadtteil fällt auf eine graue Landschaft aus Hochhäusern. Alle aus den 70er Jahren, einheitlich farblos, baufällig. Die Fenster sind undicht, der Fahrstuhl im Treppenhaus funktioniert wieder einmal nicht. Trotzdem ist das für Ksenia Makarova Luxus, denn sie ist eine der wenigen 23-Jährigen, die sich überhaupt eine eigene Wohnung leisten können.
Überhaupt entspricht die kleine, zierliche Studentin nicht dem typischen Bild einer Russin. Sie kleidet sich sportlich, trägt feste, flache Schuhe und weite Hosen. Es ist 18 Uhr. Sie macht sich fertig zur Arbeit, packt ihren Laptop ein und verlässt das Haus. Eigentlich studiert sie noch, hängt aber wegen ihres Jobs einige Semester hinterher. „Nun ja, der Luxus hier muss ja bezahlt werden.“ Ksenia ist Informatikerin, programmiert Websites für eine amerikanische Firma. Den Großteil ihrer Arbeit machen aber Übersetzungen aus. Sie hat in der elften Klasse ein Jahr in West Virginia gelebt, spricht daher fließend Englisch und kennt die ‚Welt draußen’: „Natürlich ist Ufa im Vergleich zum Westen tiefste Provinz. Aber die Stadt ist trotzdem groß genug, um hier leben zu können. Außerdem habe ich gesehen, wie schwer es ist, noch einmal neu anzufangen. Und im Ausland warten sie nicht unbedingt auf mich.“
Ksenia weiß, dass sie eine seltene Erscheinung in der Millionenstadt im Südural ist. Zwar ist die offizielle Arbeitslosenquote bemerkenswert niedrig, – zum 1. Oktober 2006 haben sich 1,22 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung registrieren lassen – doch stellt man bei genauerem Hinsehen fest, dass nur einer kleiner Teil der jungen Menschen eine ihrem Studium entsprechende Arbeit findet. Meist arbeiten studierte Historiker in der Werbebranche oder Chemiker als Handyverkäufer. Der Verdienst reicht bei nahezu allen Jobs kaum zum Leben. Auch in dieser Hinsicht hat Ksenia viel Glück: „Ich verdiene je nach Auftragslage umgerechnet etwa 600 Dollar im Monat. Fast zwei Drittel gehen für die Miete weg. Vom Rest lebe ich.“
Ein Gehalt, von dem Alsu Kamalowa nur träumen kann. Sie arbeitet fünf Tage die Woche jeweils acht Stunden in der sächsischen Wirtschaftsförderung in der Hauptstadt Baschkiriens. Auf 5000 Rubel, knapp 150 Euro, kommt sie am Ende des Monats. Sie hat sich bewusst für diesen Job entschieden: „Ich hatte ein Angebot als Fremdsprachenassistentin in Ostdeutschland. Ich habe abgelehnt, obwohl ich dort fast das Fünffache verdient hätte.“ Die 21-Jährige Deutschstudentin ist froh, diesen Job in Ufa gefunden zu haben, denn sie weiß, dass 99 Prozent ihrer Kommilitonen nach ihrem Abschluss nicht mit der deutschen Sprache arbeiten werden. „Eigentlich wollte ich immer nach Deutschland. Ich wollte das wirklich. Aber dann kam das Angebot in Ufa und ich habe beschlossen, dass ich nicht so weit entfernt von meiner Familie leben will und kann.“ Dabei war es gerade ihre Mutter, die versuchte, sie zu überreden, nach Deutschland zu gehen.
Doch Alsu hat sich für Ufa und damit einen Job als Sekretärin entschieden: „Ich denke, dass ich während der kommenden Jahre viele Kontakte knüpfen kann, die mich weiterbringen. Und ich weiß, dass ich in Ufa etwas erreichen kann. In Deutschland wäre ich dagegen nur eine mittelmäßige Immigrantin in der Statistik.“
Längst nicht alle Branchen gewährleisten eine so aussichtsreiche Zukunft. Natasha Bogorad weiß, dass sie sich für Ufa eigentlich das falsche Studienfach ausgesucht hat. Soziokultureller Service und Tourismus mit Spezialisierung auf Hotellerie und Management – eine nicht wirklich gefragte Branche im weit abseits von den Reisehochburgen gelegenen Baschkortostan. „Ich habe in meiner Heimatstadt keine echte Perspektive. Ich will aber sowieso nicht hier bleiben, denn ich denke, dass ich mich hier nicht wirklich entwickeln kann.“
Im vergangenen Jahr bekam die 19-Jährige die Möglichkeit, ein halbes Jahr in Deutschland zu verbringen. Drei Monate Berufsakademie und drei Monate Praktikum in einem Dreisternehotel in Ravensburg waren eine Erfahrung, die ihr viel gebracht hat: „Das war meine erste Reise ins Ausland. Natürlich war es furchtbar schwer am Anfang, aber ich habe in dem halben Jahr auch verstanden, dass ich viel mehr kann, als ich mir immer zugetraut habe.“
Natasha hat das Leben in Deutschland genossen. Ihr hätten sich in dieser Zeit so viele Möglichkeiten geboten, auch in einer vergleichsweise kleinen Stadt wie Ravensburg konnte man alles kaufen und machen, was in Russland meist nur in den Metropolen Moskau und St. Petersburg möglich ist. Natürlich wisse sie, dass ein Leben in Russland leichter wäre für sie. Aber die Eindrücke von ihrem Deutschlandaufenthalt lassen sie nicht mehr los. Sie träumt von einem besseren Leben, dass sie ihrer Ansicht nach in Ufa nicht finden kann. Im Moment wird es aber vermutlich erst einmal bei den großen Träumen bleiben, denn ohne Diplom lohne sich das Planen sowieso nicht.
Alsu und Ksenia haben ihren Platz im engen Arbeitsmarkt von Ufa gefunden. Doch ewig möchten sie dort nicht bleiben. Sie hoffen auf Kontakte, die ihnen irgendwann nach dem Studium einmal weiterhelfen und den Weg ebnen zu einem erfolgreichen Berufsleben und – damit verbunden – einem Gehalt, von dem sie auf eigenen Füßen stehen können. Und wenn das doch nicht so klappt, lacht Alsu, bleibe ja immer noch die Option erfolgreicher Mann.
Elisabeth Lehmann, Mai 2007