Meine erste Begegnung mit dem deutschen Theater hatte ich im Dezember am Vorabend vor Weihnachten. An diesem Tag traf sich wahrscheinlich die halbe Stadt zur Vorstellung des „Nussknackers“. Viele Deutsche schauen sich dieses Ballett fast jedes Jahr an, so dass es schon eine Art Tradition geworden ist. Ungeduldig erwartete ich den Abend, um in die Welt von weichen Sesseln, rotem Samt und umherflatternden Ballerinas einzutauchen. Meine Freundin aus Russland beneidete mich wirklich darum, dass ich nun ein Ballett des übersättigten Marktes Europas sehen durfte! Wie wir uns geirrt haben!
Erstens war das Sujet des „Nussknackers“ mit der Weihnachtsgeschichte von Dickens vermischt worden, was an sich natürlich noch keine Tragödie darstellt.
Zweitens wurden die Synchron-Tänze auf einem sehr mittelmäßigen Niveau ausgeführt. Wunderschöne Balletttänzer, stattlich wie Götter aus Ionia (antike Region der Zentralküste Anatoliens) verloren armselig den Anschluss und versuchten diesen an ihre konzentrierteren Mitstreiter wieder zu erlangen, was aber weniger von Erfolg gekrönt war.
Drittens bin ich es gewohnt, unsere Ballerinas in kurzen Kleidern zu sehen. Ich versichere Euch, dass so ein Aufzug durchaus nicht durch die verdorbenen Sitten künstlerischer Mittel hervorgerufen wird – im Gegenteil. Er behält sich vor, die Schönheit und Kraft der Muskulatur der Tänzerinnen, die ganze Grazie und Eleganz ihrer Bewegungen zu zeigen. Und was bekomme ich in Deutschland zu sehen? Irgendwelche Kleider, die bis zum Boden reichen, mit denen es nicht nur unbequem ist zu tanzen, sondern die außerdem jeglichem ästhetischen Empfinden des Zuschauers trotzen.
Viertens bin ich zutiefst davon überzeugt, dass Ballerinas keinen Busen haben dürfen. In unseren russischen Tanzschulen wurden Mädchen, die für das Ballett einen zu großen Busen hatten, einfach rausgeworfen. Das ist nicht hartherzig, sondern entspricht den Vorschriften der klassischen Schule des Tanzes. In Russland hat man bis heute verstanden, dass das Schaukeln des weiblichen Fleisches für beleibte Zigeunerinnen oder östliche Verführerinnen angemessen ist, aber auf keinen Fall für Ballerinas! Hier in Deutschland hatte ich das Vergnügen, die bei jedem Schritt hüpfenden Brüste zu begutachten.
Fünftens habe ich noch nie solche dicken Nussknacker gesehen. Jedes Mal wenn der vom Pech verfolgte Hauptheld krachend auf der Bühne landete, krümmte ich mich lautlos vor Lachen. Der Nussknacker ähnelte einem Schrank und benötigte unbedingt eine Diät.
Aber es gab auch einen freudigen Moment für mich. Mephisto! Das war ein Schauspieler! Er spielte, mit einem Hang zur sadistischen Homosexualität, herausragend den Teufel. Sein Erscheinen auf der Bühne war das einzig Positive.
Kurz gesagt, war mein erster Eindruck vom deutschen Theater eher sarkastischer Natur.
Später hatte ich die Gelegenheit das Musical „Phantom der Oper“ zu sehen. Ich war, meinen Erfahrungen entsprechend, eher skeptisch eingestellt und erwartete schlechte Stimmen und schwerfällige Tänzer.
Aber das, was ich dann zu sehen bekam, hat mich angenehm überrascht. Ein großartiges Bühnenbild, tolle Kostüme, aufwendige Technik sowie unerwartete und markante Handlungspassagen. All das harmonierte mit wunderbaren Sängern und ihrem künstlerischen Talent. Die Qualität der professionellen Arbeit honorierte ich, indem ich beim Erscheinen des Gespenstes meine Augen vor Angst weit aufriss, die Hand meines Nachbarn ergriff, wenn es zu Explosionen kam und in besonders melodramatischen Momenten in Tränen ausbrach.
Hier wurde mir schlagartig klar, wie das System der Theaterindustrie funktioniert. Die Tickets für solche Veranstaltungen sind in Europa vergleichsweise teuer. Meine deutschen Freunde sind bei uns in Ufa wie auf einen Spaziergang ins Ballett und in die Oper gegangen, weil hundert oder zweihundert Rubel für einen Theaterbesuch, ihren Vorstellungen nach, nicht viel sind. Unsere provinz-hauptstädtische Melpomena (Muse der Tragödie in der griechischen Mythologie) tanzte vor ihnen im bescheidenen Kleid. Aber die talentierten Künstler traten für ein paar Groschen auf, was an sich sehr erfreulich ist. Hier in Russland ist das System der Talentförderung sehr hoch entwickelt und bewährt sich in den meisten Fällen. Europäer zahlen für alle Freizeitangebote, die qualitativ hoch sind, was sie aber nicht vor solchen ärgerlichen Exzessen, wie denen im „Nussknacker“ schützt.
Meine letzte Theatererfahrung machte ich in der Oper Tosca von Giacomo Puccini. Und ich muss sagen: Ich habe das erste Mal im Theater geweint. Die Oper lief fünf Minuten, als ich begann, meine Unterlippe zu kauen, meine Augenbrauen sich bis zum Pony hoben und mir fast die Augen heraus fielen. Mario sang über seine Liebe zu Tosca, was mich so beeindruckte, dass ich ganz hemmungslos zu weinen begann und das, obwohl ich kein Wort Italienisch verstand. Die Tränen kullerten mir über meine Ausgeh-Klamotten, als Mario Tosca umarmte, beide weit in den halbleeren Saal blickten und die schwierigste Partie über ihre glückliche Zukunft zu singen begannen. Ich hasste den General aufrichtig, der Tosca auf eine abscheuliche Art und Weise umwarb. Und ihm galt natürlich der wirklich ernst gemeinte Applaus, da er so authentisch die lasterhafte Leidenschaft eines ehrwürdigen alten Mannes spielte. Das ist eben nicht Tokio Hotel mit ihren vor Speichel tropfenden Liedern, sondern die wirklich hohe Kunst der Katharsis.
Zwar befürchtete ich die ganze Zeit, dass Tosca sich mit ihren hohen Absätzen in der Schleife ihres Kleides verfangen und dem Violoncellisten im Orchestergraben auf den Kopf fallen könnte. Ihre Bewegungen, wie sie dem General davonlief, waren so leidenschaftlich, dass es nicht sehr standfest schien. Zudem war das Bühnenbild bzw. die Dekoration dem Zuschauer entgegengeneigt, so dass der Eindruck verstärkt wurde, dass die Schauspieler einem entgegen fielen. Dieser Effekt erhöhte den Adrenalinausschuss noch mehr.
Abschließend muss ich sagen, dass meine Theaterrezension keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit hat. Das ist lediglich die Ansicht einer Person aus Ufa. Und als Vertreterin aus Ufa fasse ich zusammen: Unser Ballett ist besser, italienische Opfer forever und Musicals … sind in Moskau vielleicht auch nicht schlecht, aber in Ufa habe ich so etwas noch nie gesehen.
Elena Shalevich, 30. 05. 2007