Auf die Idee, diesen Artikel zu schreiben, kam ich nach dem Besuch einer der russischen Diskos in Halle. Hier kann man leicht ins Gespräch mit russischen Jugendlichen kommen. Wie leben sie hier in Deutschland? Möchten sie in die Heimat zurückkehren? Anton und Kostja, unsere neuen Bekannten, gingen gerne auf unseren Vorschlag ein, diese und auch andere Themen zu besprechen.
Ich glaube, wir sollten unser Gespräch mit der Frage anfangen, wie ihr nach Deutschland gekommen seid? Was hat euch hierher verschlagen?
Anton: Ich bin mit meiner Familie im Jahr 2002 als Spätaussiedler nach Deutschland gekommen. Mein Vater ist ein Russlanddeutscher. Genauso wie viele andere wollten wir hier ein besseres Leben haben. Der andere Grund dafür war meine Oma und Opa. Die Eltern haben beschlossen, sie in ihre ehemalige Heimat zu bringen, dass heißt nach Deutschland. Früher haben sie in Russland in einem deutschen Dorf gelebt. Mein Vater konnte bis 6 Jahre überhaupt kein Russisch sprechen. Deswegen wurde ihnen zu Sowjetzeiten auch eine Rüge erteilt. Mit mir war es umgekehrt. Alle Versuche, mir Deutsch beizubringen, scheiterten. In Russland habe ich Mathematik an der Moskauer Staatlichen Universität studiert. Ich wollte dort meinen Abschluss machen, aber meine Eltern haben es mir nicht erlaubt. Und so bin ich mit ihnen nach Deutschland gezogen.
Kostja: Ich bin mit meinen Eltern 1996 als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland gekommen. In meiner Heimat in Pskov konnte ich die 8 Klasse beenden. Hier sollte ich ins Gymnasium gehen. Russland zu verlassen war für mich, einen 13-jährigen Jungen, schwer. Ich habe kaum an das bessere Leben im Ausland gedacht. Meine Gedanken beschäftigte etwas ganz anderes: In Russland habe ich immer so gerne in unserer Datscha tief im Wald meine Ferien verbracht. Das Haus war immer voll von Kindern, meinen Altersgenossen. Wir haben die Zeit immer sehr lustig verbracht. Als wir weggingen, habe ich nur daran gedacht, dass ich das für immer verliere.
Hat Deutschland eure Erwartungen erfüllt?
Anton: Ehrlich gesagt war ich zuerst total enttäuscht. In Halle mussten wir in der ersten Zeit in einem Nachtasyl für obdachlose Alkoholiker wohnen. Sogar später, als das Leben in Gang gekommen war, fühlte ich mich hier äußerst unwohl. Nach dem riesigen Moskau war das Provinzstädtchen Halle für mich zu klein. Ich wollte die ganze Zeit nach Berlin fahren.
Kostja: Das Ziel meiner Eltern war es, das wir, ihre Kinder, besser leben konnten. Der Vater konnte eine Arbeit in seinem Beruf finden. Zwar musste er das erste Jahr unentgeltlich arbeiten, dann funktionierte es aber erfolgreich. Was mich persönlich anbetrifft, glaube ich, dass meine Träume hier nicht in Erfüllung gehen können.
Auf welche Probleme seid ihr in erster Linie gestoßen?
Anton: In erster Linie war es schwierig mit der deutschen Sprache. Mir fehlte die Kommunikation. Dazu musste ich ein neues Leben anfangen, vom Anfang an studieren, das war gar nicht so einfach.
Kostja: Ich hatte auch Probleme mit der Sprache. Ich war zu schüchtern, um Deutsch zu sprechen. Aber das wichtigste Problem war mit dem Gedanken verbunden, dass meine Heimat nicht hier war. Ich war lange Zeit in einem „verwirrten“ Zustand.
Und heute, wo all diese anfänglichen Hindernisse hinter euch liegen, habt ihr euren Platz im Leben gefunden? Was macht ihr? Wie verbringt ihr eure Freizeit?
Anton: Ich studiere jetzt Physik an der Uni. Obwohl ich sie ehrlich gesagt nicht besonders mag. Ich interessiere mich für Musik. Ich wollte schon immer mich damit beschäftigen, aber meine Eltern haben mich aufgehalten. Sie meinten, es sei nicht ernsthaft. Eigentlich ist es mein Traum, durch Europa zu reisen, und Geld für meinen Lebensunterhalt und Saiten mit Gitarrespielen zu verdienen. Wenn er nicht in Erfüllung geht, bleibt mir die Physik. Dann kann ich auch entscheiden, was ich damit machen will.
Kostja: Ich studiere Wirtschaft an der Uni. «Sehr interessant!». Ich liebe es zu malen. Wollte Design studieren, aber im letzten Moment meine Meinung geändert. Ich arbeite auch im Operntheater als Statist.
Habt ihr immer noch Kontakt zu euren Verwandten und Freunden in Russland?
Anton: Ich stehe im Kontakt mit meinen Freunden per Internet. Seitdem ich da bin, plane ich, zu Besuch nach Russland zu fahren. Aber noch nicht einmal habe ich das bis jetzt geschafft.
Kostja: Alle meine Verwandten sind im Prinzip hier. Über die Ereignisse in Russland erfahre ich über das Fernsehen und aus Zeitungen. Und plane auch jeden Sommer hinzufahren.
Meint ihr, dass die deutschen Jugendlichen sich sehr stark von den russischen unterscheiden?
Anton: Ich teile die deutschen Jugendlichen in zwei Gruppen ein: mit einigen kann ich nicht kommunizieren, mit anderen stehe ich gerne in Kontakt. Zu der ersten Gruppe gehören „coole“ deutsche Jungs, die sich mit ihren teueren Autos brüsten und Tabletten schlucken. Aber hier gibt es auch andere Jugendliche, die unseren schon ähnlich sind. Aber einige Charakterzüge kann man nicht ausrotten. In Moskau habe ich in einem Studentenwohnheim gewohnt, wo alle einander kannten, gerne kommunizierten, und zu jeder Zeit konnte man bei seinen Nachbarn vorbeikommen. Hier gibt es so was nicht. Ich bin sogar in eine WG gezogen, um diese Atmosphäre zu finden, die in unserem Wohnheim in Moskau herrschte. Jetzt verstehe ich, dass meine Bemühungen umsonst waren. Den deutschen Jugendlichen fehlt an Spontaneität. Alles ist durchdacht und durchgerechnet. Und bekanntlich passiert das Interessanteste dann, wenn alle Entscheidungen auf „gut Glück“ getroffen werden.
Kostja: Ich stimme Anton zu. Viele Deutsche sehen selbst ein, dass die Beziehungen zwischen den Leuten hier kalt sind. Jeder hier ist auf die Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse aus.
Und was denkt ihr im Ganzen über die Deutschen, wie steht ihr zu ihnen und ihrer Kultur?
Anton: Ich bin begeistert von ihrer Arbeitsamkeit. Jeder erledigt seine Arbeit mit Lust, hoher Sorgfalt und Präzision. In Russland dagegen macht jeder alles Mögliche, aber nicht seine Arbeit. Mir gefällt auch die deutsche Freundlichkeit und Offenheit. Aber offen sind sie nur im bestimmten Maße. Sie «verdauen» ihre Gefühle in sich selbst, nicht so wie in Russland, wo man sich bei jedem beklagen kann. Man vertraut einander nicht völlig.
Deutsche Kultur besonders die Feste, sind für mich immer noch ein Rätsel geblieben. Ich verstehe sie nicht. Das ist irgendwie fremd für mich. Ich verstehe darunter nur einen zusätzlichen Feiertag oder einen Anlass…
Kostja: Ich würde die Höfflichkeit der Deutschen betonen. Manchmal ist sie gespielt, ist aber trotzdem angenehm. Was die Kultur anbetrifft, sie ist sehr schön und reich.
Sehr viele gehen von der Abstammung aus, wenn sie ihre Lebenspartner suchen. Was meint ihr dazu?
Anton: Für mich ist es keine prinzipielle Sache, welcher Abstammung eine Frau ist. Aber bezüglich der deutschen Frauen möchte ich sagen, dass man einfacher sein sollte und sich keine Flausen in den Kopf setzen, wie z. B. Feminismus.
Kostja: Mit den Deutschen fällt es mir schwer zu kommunizieren. Sie haben völlig andere Mentalität. Sie verstehen mich nicht. Ich kann mit ihnen meine Gedanken nicht teilen. Die russischen Frauen stehen im Gegenteil dazu. Und auch vom Aussehen gefallen sie mir besser. Im Prinzip kann das jeder Deutsche bestätigen.
Deutschland kann man als internationales Land verstehen. Was denkt ihr darüber?
Anton: Die Deutschen sind ziemlich loyal zu Ausländern. Ich habe ein bisschen Angst vor einer solchen Menge an muslimischer Bevölkerung, aber es ist immerhin gut, dass man ganz verschiedene Kulturen kennen lernen kann. Die Ausländer kommen sich hier einander näher aufgrund der Tatsache, dass sie gemeinsam in einem fremden Land sind. Ethnische Konflikte sind auch keine Ausnahmen. Zum Beispiel, dass die Russen niemanden außer die Ihrigen akzeptieren. Bei den Deutschen ist es auch nicht ganz so einfach. Ich denke, dass sie immer noch diesen Komplex haben, der mit ihrer Geschichte verbunden ist.
Kostja: Deutschland sollte sowohl die Russen, als auch die Türken und die Juden aufnehmen. Das Land hat sie selbst eingeladen. So leben sie alle hier. Da gibt es nichts zu beklagen. Was die nationalistischen Stimmungen anbetrifft, so glaube ich, sie sind noch da. Es zeigt sich ein Unterschied in der Mentalität und in der Kultur. Die Deutschen sind einfach manchmal unsicher. Sie verfallen in verschiedene Extreme. Mal freuen sie sich auf alles, mal sind sie ungeduldig, und dann benehmen sie sich wieder anders.
Und jetzt wollen wir über die Zukunft sprechen. Welche Pläne habt ihr? Sind sie mit Deutschland verbunden? Gibt es hier überhaupt gute Aussichten für Jugendliche?
Anton: Ich plane für die ferne Zukunft noch nichts. Wenn man sich mit Wissenschaft beschäftigen will, ist es besser, in die USA zu gehen. Sehr viele machen das auch. Aber ich finde, dass Deutschland eine Zukunft hat. Hier gibt es nicht wenig intelligente Leute. Das Problem liegt meiner Meinung nach im politischen und wirtschaftlichen System. Zu hohe Steuern und zu niedrige Verdienste. Ich bin für die Abschaffung der Sozialhilfe. Viele, die sie bekommen, wollen einfach nicht arbeiten. Wir brauchen Reformen, und zwar gerechte.
Kostja: Ich finde nicht, dass in Deutschland alles gut ist. Ich will wieder nach Russland gehen. Ich kann nicht weit entfernt von meiner Heimat leben. Und als erstes möchte ich ein Praktikum in Sankt Petersburg finden.
So ging unser Gespräch zu Ende. Aber das Thema „Russen in Deutschland“ ist sehr umfangreich, und man kann es mit einem Artikel nicht erschöpfend behandeln. Ich glaube, dass wir beide noch bei weiteren Beiträgen auf den Seiten unserer Zeitung noch besser kennen lernen werden. Ich bedanke mich bei Anton und Kostja für dieses inhaltsreiche Interview und wünsche ihnen von ganzen Herzen Glück bei allen ihren Plänen, egal in welchem Land sie sich befinden!
Dilara Dilmukhametova, 27.04.05