Das Uralgebirge stellt per Definition die Grenze zwischen Europa und Asien dar. Jeder Europäer hat schon einmal von dem Gebirgszug gehört. Doch die wenigsten haben eine genaue Vorstellung davon oder machen sich die Mühe, in diesen entlegenen Teil Europas zu reisen. Ich war drei Tage lang im Ural wandern und habe mir die ominöse Grenze zu Asien selbst angeschaut.
Der Ural ist kein hohes Gebirge. Von weitem erinnert er vielmehr an eine lang gezogene Hügelkette, die sich sanft über der weiten Ebene Russlands erhebt. Er zieht sich von der Nordküste Russland bis zur südlichen Grenze mit Kasachstan. Der höchste Berg Narodnaja im nördlichen Ural erreicht eine Höhe von 1895 Metern. Der Name „Ural“ stammt aller Wahrscheinlichkeit nach aus den Turksprachen der hier seit Jahrhunderten ansässigen Völker – allen voran die Baschkiren – und bedeutet so viel wie Gebirge. Viel Kreativität wurde bei der Namensgebung also nicht an den Tag gelegt.
Gemeinsam mit Tim, einem Australier, den ich über Couchsurfing kennen gelernt habe, mache ich mich auf in den Ural. Ja, ich bin selber erstaunt, dass es Australier in Russland gibt. Unser Ziel ist jedenfalls der Nationalpark Taganaj in der Nähe der Stadt Slatoust, 400 Kilometer östlich von Ufa. Wir wollen drei Tage lang wandern und zwei Nächte in freier Natur verbringen. Am Parkeingang besorgen wir uns eine Karte des Gebiets, die aber wegen fehlender topographischer Markierungen und ungenauer Kennzeichnungen weitgehend unbrauchbar ist. Letztendlich verlassen wir uns bei der Orientierung auf einen Kompass und unseren Instinkt.
Gleich für den ersten Tag nehmen wir uns vor, den höchsten Berg des Parks zu erklimmen, den „Круголец“ (Krugolez, der Runde), der so genannt wird, weil sich seine kreisrunde Spitze wegen des weißen Gesteins von der Umgebung abhebt. Nur am ersten Tag treffen wir unterwegs eine Handvoll anderer Wanderer. Am zweiten und dritten Tag kreuzen wir keine Menschenseele, was den Eindruck erhöht, sich fernab jedweder Zivilisation zu befinden.
Enttäuschend ist aber, dass wir kaum wilde Tiere zu Gesicht bekommen. Schließlich wurde uns versichert, dass es im Park alle möglichen Arten von Tieren gibt, sogar Braunbären sollen vorkommen. Doch auf unseren Streifzügen durch die Wälder bekommen wir kein größeres Säugetier zu Gesicht. Auch die Flora wird mit der Zeit langweilig: Bäume, Bäume und nochmals Bäume. Nur wenige Blüten und Sträucher bieten einen schönen ansprechenden Anblick. Beim Wandern durch die ausgedehnten Wälder kann man durch die Bäume die Gipfel der Berge nicht erkennen – was mit der Zeit frustriert.
Am Abend des ersten Tages schaffen wir es aber nach kilometerlangem Marsch doch noch auf den Gipfel. Die Aussicht entlohnt allemal. Es bietet sich ein toller Blick über einen Teil des Südurals. Wenn man in Deutschland auf einen Berg steigt, sieht man in den Tälern rundherum Kulturlandschaften und menschlichen Einfluss. Auf der Spitze des Krugolez aber hat man abermals den Eindruck, dass es in einem Umkreis von Hunderten von Kilometern keine Menschen gibt. Nur grüne Wälder, soweit das Auge reicht. Am zweiten Tag durchqueren wir ein weites Tal und erklimmen den Mont Blanc. Nein, wir sind natürlich nicht mal eben in die französischen Alpen gereist. Auch im Ural gibt es einen Mont Blanc (Мон Блан), der jedoch viel kleiner ist und mit seinem zerklüfteten Gipfel an den höchsten Berg der Alpen erinnert.
„Irgendwie total unrealistisch, mitten im Ural zu sein“, sagt Tim, als wir am ersten Abend am Lagerfeuer sitzen, und spricht dabei meine eigenen Gedanken aus. „Ich mein, wer fährt schon hierher zum Wandern?“ Tatsächlich waren auch die Parkaufseher am Eingang ziemlich überrascht, als wir uns als Deutscher und Australier zu erkennen gaben. Für Europäer geht am Ural die zivilisierte Welt zu Ende. Hinter dem Ural liegt nur noch Sibirien, das Land der ewigen Kälte, wo die Sonne höchstens ein paar Tage im Jahr scheint. Das war zumindest die Vorstellung des Autors dieser Zeilen vor Beginn der Reise.
Eine europäisch-asiatische Grenze gibt es eigentlich nicht, denn beide Kontinente gehören zur Eurasischen Erdplatte. Die Bezeichnung Europas als Kontinent ist geschichtlich bedingt und geht auf das Weltbild der Antike zurück. Ursprünglich wurde der Fluss Don im heutigen Westrussland als Grenze zu Asien angesehen. Erst mit der Expansion des Russischen Reiches unter Iwan dem Schrecklichen und seinen Nachfolgern ab dem 16. Jahrhundert wurde der Ural als Grenze Europas zu Asien proklamiert. Heute gibt es im Ural an vielen verschiedenen Orten Denkmäler, die für sich in Anspruch nehmen, genau an der Grenze zwischen Europa und Asien zu stehen.
Ein weiteres interessantes historisches Detail: Die Urheimat der Magyaren, der heutigen Ungarn, wird hier vermutet. Hinweise darauf geben immer noch vorhandene sprachliche Gemeinsamkeiten zwischen dem Ungarischen und der Sprache der hier seit Jahrhunderten lebenden Baschkiren. So bedeutet etwa Apfel im Ungarischen „alma“ und im Baschkirischen „әлма“ (sprich: ällma). Eine nahe Verwandtschaft zwischen finno-ugrischen Sprachen, zu der das Ungarische gehört, und den Turksprachen, wird von den meisten Linguisten aber abgelehnt.
Am dritten und letzten Tag unserer Wandertour kamen wir auf dem Rückweg in die Stadt an einem Bergsee vorbei. Unsere kleine Reise wurde deswegen mit einem erfrischenden Bad abgeschlossen. Bevor ich meinen Zug zurück nach Ufa nehmen musste, ließen Tim und ich es uns nicht nehmen, sofort in ein Restaurant essen zu gehen. Denn wir hatten uns ja drei Tage lang nur von Brot, Dosenfutter und Trockenwurst ernährt.
David Witkowski, Juli 2013